Multikultur auf Weltniveau

Wie schnell die Zeit vergeht: „100 Jahre Weltmusikstadt Berlin“ ist das Motto der Weltmusik-Messe WOMEX. Das Genre hat Geschichte – aber noch fehlt ihm die Verwurzelung in Migrantenmilieus

von DANIEL BAX

Am Anfang ertönt nur ein Knistern. Dann erhebt sich der Klang eines Xylophons aus dem rhythmischen Rauschen, und eine Melodie nimmt Gestalt an. Die knarrzige Aufnahme ist auf dem Edison-Zylinder mit der Nummer 1 festgehalten, der im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem lagert, und erinnert an den Besuch eines königlichen Hoforchesters aus Siam, dem heutigen Thailand, das vor hundert Jahren im Zoologischen Garten der Reichshauptstadt ein Gastspiel gab. Der Gelehrte Carl Stumpf hielt den Auftritt des Musik- und Tanzensembles auf 24 Wachszylindern für die Nachwelt fest, und diese bildeten den Grundstock der Sammlung des Phonographischen Archivs in Berlin, das heute mehrere tausend solcher Edison-Zylinder zu seinem Bestand zählt. Inzwischen ist die Sammlung auf über 150.000 Aufnahmen traditioneller Musiken aus aller Welt angewachsen, von Schellackplatten bis CDs, zusammengetragen von Ethnologen, Musikwissenschaftlern und Linguisten. Die Sound-Sammlung dokumentiert manche längst ausgestorbene Musikgattung und zählt zu den wichtigsten der Welt – allerdings ist sie selbst in Berlin allenfalls einem Fachpublikum bekannt.

Wäre nicht Ende der 80er ein Trend namens „Weltmusik“ aufgekommen, vielleicht wären solche Katakomben der Klänge heute der letzte Ort, traditionelle Musikformen aus fernen Ländern kennenzulernen. Doch die steigende Nachfrage aus der ersten Welt hat zu einer regelrechten Renaissance lokaler Genres geführt: Heute starten greise Kubaner eine zweite Karriere mit den Gassenhauern aus ihrer Jugendzeit, zu Unrecht vergessene Zuluchöre wagen ein Comeback, und barfüßige Barsängerinnen von entlegenen Inseln finden sich auf großer Bühne wieder. Was vor einiger Zeit noch allenfalls ein paar Musikethnologen, musikalische Weltenbummler oder romantische Schwärmer interessierte, ist heute im Westen so populär wie nie zuvor.

Grund zum Feiern, auch in Berlin: „100 Jahre Weltmusikstadt Berlin“ lautet das Motto, das an die archivarisch verbürgten Anfänge erinnern soll. Unter diesen Wahlspruch wurden in der Hauptstadt jüngst kurzerhand alle Veranstaltungen des laufenden Monats gestellt, die sich im weitesten Sinne um die Präsentation globaler Musikstile verdient machen. Ein Motto, unter das sich auch die Macher der Weltmusik-Messe WOMEX gerne einreihen, die vom 19. bis zum 22. Oktober wieder im Haus der Kulturen der Welt ihre Zelte, Klapptische und Messestände aufschlägt. Berlin bei dieser Gelegenheit mal eben zu einer „Hauptstadt der Weltmusik“ ausrufen zu wollen mag dem ortsüblichen Größenwahn geschuldet sein. Es kündet aber auch vom Stolz, im internationalen Multikulturvergleich mithalten zu können. Endlich Weltniveau! Schließlich soll es für den Messe-standort Berlin ja noch andere Argumente geben, als das leidlich strapazierte Klischee vom deutschen Organisationstalent.

Und hat die Stadt nicht auch einiges zu bieten? Mit dem Haus der Kulturen der Welt ein Forum für internationale Hochkultur? Mit der Werkstatt der Kulturen und ihrem Weltmusikwettbewerb „Musica Vitale“ einen Talentschuppen zur Förderung des lokalen Nachwuchses? Den bunten „Karneval der Kulturen“-Straßenumzug? Das allsommerliche „Heimatklänge“-Festival im Tempodrom, das auf populäre Exotik setzt? Das „Festival traditioneller Musik“, das sich eher dem Besonderen widmet, in diesem Jahr etwa der Musik des Amazonasgebiets? Und nicht zuletzt mit Radio Multikulti, bundesweit lange einmalig, eine ganztägige Weltmusikwelle im Äther? Das Programm hat sich so gut bewährt, dass der WDR mit seinem „Funkhaus Europa“ das Konzept inzwischen quasi kopiert hat. Wohin man also blickt: blühende Landschaften!

In Berlin kulminiert, was in ganz Deutschland zunehmend Wurzeln schlägt. Das Allerwelts-genre „Weltmusik“ steht gut da: Jeden Sommer gehen republikweit mehr als ein Dutzend Festivals über die Bühne, die mal auf Afrika, mal auf Brasilien abonniert sind. Zahlreiche Weltmusiker von internationalem Ruf sind in Deutschland beheimatet oder haben sich hier zeitweise niedergelassen: der Tabla-Wizard Trilok Gurtu etwa, die Pianistin Azizah Mustafa Zadeh oder der Oud-Virtuose Rabih Abou Khalil. Dazu gibt es im gesamten Bundesgebiet, von Marburg bis Bremen und von Frankfurt bis Berlin, eine ganze Reihe renommierter Plattenlabels, die sich auf Weltmusikproduktionen spezialisiert haben.

Diese Entwicklung kam nicht über Nacht, und sie reicht weiter zurück als der Weltmusikboom der 80er. Schon 1967 legte der Jazzjournalist Joachim-Ernst Berendt, als er im Rahmen der Berliner Jazztage eine Weltmusik-reihe mit Künstlern aus Indien, Tunesien oder Japan initiierte, die Saat für das spätere Wuchern der Fusionsszene. Dieses Mendeln zwischen den Musikkulturen, das Berendt im Jazz so schätzte, sollten Krautrockbands wie Embryo und deren Spross, die Dissidenten, später auf ihrem Gebiet umsetzen. Ihr Ansatz findet heute in den synthetischen Klangsymbiosen deutscher Ethno-Remix-Projekte wie Enigma seine zeitgemäße Entsprechung. Und wenn in diesem Sommer in Hannover eine Parade mit der spanischen Gruppe La Fura dels Baus, einer brasilianischen Samba-Band, mit Jagdhornbläsern aus Hameln und einer malischen Djembé-Gruppe jeden Nachmittag die Expo-Allee entlangdefilierte, dann klang darin das geistige Erbe des Weltmusikvordenkers nach. Berendt hatte schon 1972 zu den Olympischen Spielen in München ein Rahmenprogramm organisiert, für das er traditionelle Musikgruppen aus diversen Nationen geladen und so seine Idee von Multikultur als Mittel der Völkerverständigung salonfähig gemacht hatte.

An solchen idyllischen Ringelpiezszenarien lässt sich allerdings auch der Unterschied zu den Verhältnissen in anderen Ländern ablesen. Multikultur in Deutschland ist ein Konzept, das sich seine Realität erst noch schaffen muss. Anders gesagt: Der Notting Hill Carnival in London oder die Fête de la Musique in Paris mögen bunt, vielfältig und auch „multikulturell“ sein – aber sie tragen diesen Anspruch nicht so betont vor sich her wie etwa der „Karneval der Kulturen“ in Berlin. Ohnehin stellt sich die Frage, ob es wirklich so klug war, diesen Straßenumzug für einen Stadtteil zu konzipieren, dessen überwiegend türkischen Bewohnern die Tradition des Karnevals eher fremd ist. Solcher Multikulturalismus wirkt gern etwas aufgesetzt und bemüht. Kein Wunder, dass er von den Adressaten nicht immer gleich begeistert angenommen wird: Auch der Anteil junger türkischer Hörer bei Radio Multikulti ist eher gering – die Mehrheit hört lieber den Sender Metropol FM, der sie rund um die Uhr mit orientalischem Pop und Nachrichten in türkischer Sprache versorgt.

Die fehlende Anbindung an dominante Migrantenmilieus ist ein auffälliges Merkmal der deutschen Weltmusikszene, sie wirkt seltsam abgekoppelt von den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft. Die meisten Migranten in der Bundesrepublik stammen aus der Türkei oder Exjugoslawien, aus Polen, Russland oder Vietnam. Das alternativ-saturierte Mittelschichtspublikum der Weltmusik sucht dagegen freundlich-vertraute Exotik und bevorzugt Klänge aus Brasilien, Kuba oder Spanien. Exilbrasilianer haben deswegen gute Karten für eine Musikkarriere in Deutschland.

Wirklich erfolgreiche Weltmusik in Deutschland ist immer noch ein Import – der Buena Vista Social Club, Khaled oder Youssou N‘Dour. Eine eigenständige Szene, die einen Star von vergleichbarer Größenordnung hervorgebracht hätte, hat sich hierzulande bisher noch nicht entwickelt. Anders als anderswo spiegelt sich in der Weltmusik in Deutschland die Realität des Einwanderungslands wenig wider. Noch nicht. Auch auf der WOMEX werden in diesem Jahr deshalb keine Eigengewächse vertreten sein, die dem entsprechen, was etwa die Gruppe Sawt El Atlas für Frankreich ist.