Das Reich der starken Männer

Die Abenteuer des Harry Potter sind aufregend, gut geschrieben, fantasievoll. Doch leider: Wie gehabt sind Männer die Helden und Frauen das schwache Geschlecht

Fühlen wir uns vielleicht getröstet voneiner Welt, in der die Geschlechterrollen so unerschüttert sind?

Es waren genau vier Gründe, warum ich die Harry-Potter-Bücher kaufte: Ihr eindrucksvoller Vorsprung auf den Bestsellerlisten, die Verzückung der Eltern über Harrys magische Fähigkeit, Kinder in leidenschaftliche Leser zu verwandeln, die Bettelei meiner Töchter – und die endlosen Wartelisten in der öffentlichen Bücherei. Kaum hatte ich „Harry Potter und der Stein der Weisen“ in der Hand, las ich alle vier Bände in einem Rutsch zu Ende. Gruselige Geheimnisse und atemlose Spannung, eine zwingende Sprache und farbenfrohe Fantasie, magische Ereignisse, die sich mit alltäglichen Sorgen abwechseln – man musste die Bücher einfach verschlingen. Der sprechende Hut faszinierte mich, Quidditsch fesselte mich, in der Winkelgasse wäre ich am liebsten selbst einkaufen gegangen. Glauben Sie mir, ich habe wirklich versucht, die unterschwellige Frauenverachtung zu ignorieren. Ich wollte Harry Potter genauso lieben wie alle anderen. Aber wie konnte ich?

In Harrys Zauberreich besteht die traditionelle Rollenverteilung unverändert fort: Männer beherrschen die Welt – und das ist gut so. Von der ersten Seite des ersten Bandes an sind es Jungen und Männer, Zauberer und Hexenmeister, die die Handlung dominieren. Harry, natürlich, ist die Hauptfigur. Im Kampf gegen die Kräfte der Dunkelheit – mit dem bösen Zauberer Lord Voldemort und seinen männlichen Gefolgsleuten – wird Harry unterstützt von dem ehrwürdigen Hexenmeister Dumbledore und einem farbenfrohen Set von männlichen Charakteren. Mädchen, wenn sie nicht dümmlich und unsympathisch wirken, sind nur hilfreiche Instrumente. Kein Mädchen ist so überwältigend heldenhaft wie Harry, keine Frau so erfahren und weise wie Professor Dumbledore. Das weibliche Rollenspektrum ist sogar so begrenzt, dass weder Frauen noch Mädchen auf der Seite des Bösen mitwirken.

Aber, werden Sie einwerfen, was ist mit Harrys guter Freundin Hermine? In der Tat, sie ist die weibliche Hauptfigur und die beste Schülerin an der Zauberschule „Hogwarts“. Sie nimmt jede Anstrengung auf sich, um die Anerkennung von Harry und seinem Freund Ron zu gewinnen. Lange umsonst. Bis zu Band 3 wird sie wie eine lästige Klette behandelt. Hermine ist intelligent, aber brav und nervt die Jungen, weil sie gläubig die Schulregeln einhalten will. Gleich zu Beginn wird sie als eine herrschsüchtige Besserwisserin beschrieben, die die Jungen anfährt wie eine „wütende Gans“. Angesichts eines schrecklichen Trolls „sinkt sie ängstlich zu Boden ... den Mund offen vor Furcht“. Hermines Bücherwissen hat also seine Grenzen. Wie jedes Hollywood-Fräulein in Not muss sich Hermine ganz auf den Erfindungsreichtum der Jungen verlassen. Nachdem Harry sie im ersten Band gerettet hat, ist die Hierarchie der Macht endgültig hergestellt.

Obwohl ich von Hermines Intelligenz beeindruckt war, tat sie mir Leid. Sie strengt sich so an, um von Harry und Ron anerkannt zu werden, und dies obwohl die Jungen sie ständig abweisen und sich über sie lustig machen. Und sie hat keine Freundinnen. Tatsächlich scheint es keine anderen Mädchen an der Zauberschule zu geben, die ihrer – oder unserer – Aufmerksamkeit wert wären. Wieder und wieder geraten Hermines Gefühle in Konflikt mit ihrer Intelligenz, sodass sie den Kopf verliert, sobald sie ihr Wissen anwenden müsste. Für die Jungen zelebriert sie erfolgreich Zaubersprüche, aber ihren eigenen kriegt sie durcheinander. Ergebnis: Während die Jungen Abenteuer erleben, versteckt sie sich im Badezimmer, weil sie ihr Gesicht aus Versehen in einen Katzenkopf verwandelt hat.

Am Ende erringt Hermine den widerwilligen Respekt und die Freundschaft der Jungen, aber beide bleiben irritiert von ihrem Wissensdurst. Und wer kann es ihnen verübeln? Hermines Bücherliebe ist langweilig. Und ihr unbeirrtes Lernen wirkt fast krankhaft: Es macht sie launisch, abwesend und gefährdet ihre Gesundheit – vor allem im dritten Band. Bis zum vierten Band spielt Hermines Aussehen glücklicherweise keine Rolle. Dann aber lässt sie ihre hervorstehenden Zähne richten und arbeitet überhaupt gründlich an ihrer Schönheit, ehe sie sich zum Schulball traut. Erst jetzt nehmen Harry und Ron sie wirklich als Mädchen wahr.

Dann ist da noch Rons jüngere Schwester Ginny. Sie errötet und stammelt, sobald sie Harry begegnet. Und ihr ergeht es noch schlechter als Hermine. Die „dumme kleine Ginny“ wird unwissentlich immer zum Werkzeug des Bösen, sobald sie an ihrem Zaubertagebuch schreibt. Monatelang vertraut das „alberne kleine Balg“ ihm all ihre „jämmerlichen Sorgen“ an. Uns wird mitgeteilt, wie langweilig es ist, sich die „törichten kleinen Nöte einer Elfjährigen“ anzuhören.

Wieder und wieder werden uns Mädchen vorgeführt, die so sehr in ihren Gefühlen verstrickt sind, dass sie den Überblick verlieren. Wir sehen zu, wie sie „kreischen“, „schreien“, „nach Luft schnappen“ oder „kichern“, während die Jungen stets Haltung bewahren. Die Mädchen verharren am Rand des Abenteuers, während die Jungen mitten hinein springen. Während Harrys Freunde darum betteln, dass sie seinen brandneuen Zauberbesen reiten dürfen, ist Klassenkameradin Penelope zufrieden, wenn sie ihn nur halten darf.

Die einzige weibliche Autorität ist die glubschäugige, dünnlippige Minerva McGonagall, Professorin für Verwandlungen und stellvertretende Schulleiterin. Streng statt charismatisch sieht sie ihre Schüler an wie „ein grimmiger Adler“. McGonagall ist Dumbledores rechte Hand und fügt sich ihm in jeder Hinsicht. Während er die Weisheit besitzt, hinter die Regeln zu blicken und sie souverän ignoriert, ist McGonagall in den Regeln gefangen und setzt sie strikt durch. Obwohl sie sich so sehr bemüht, ihre Gefühle zu kontrollieren, wird sie von ihnen überwältigt, sobald die Krise naht, weil ihr Dumbledores Fähigkeit fehlt, stets das große Ganze zu sehen. Als Harry aus der Kammer der Geheimnisse zurückkehrt, greift sie sich an die Brust, ringt nach Luft und krächzt, während der allwissende Dumbledore nur strahlt.

Sybille Trelawney ist für das Unterrichtsfach Wahrsagen zuständig. Sie lehrt Teesatz-Lesen, Handlesen und Kristallkugel-Gucken – all die Künste der Intuition, die im Allgemeinen mit Frauen in Verbindung gebracht werden. Aber sie wird als Scharlatanin dargestellt, deren „hellseherische Vibrationen“ ein ständiger Gegenstand der Verachtung und des Amüsements sind. Als sie ein einziges Mal eine richtige Prophezeiung abgibt, merkt sie es nicht mal, weil sie gerade in Ohnmacht gefallen ist.

Im vierten Band wird es leider nicht besser. Gleich am Anfang tauchen die silberblonden Veelas auf, eine Art Sirenen von überirdischer Schönheit, die sich in kreischende Furien verwandeln können. Und die Reporterin Rita Skeeter ist eine neugierige, bösartige Lügnerin, die von Hermine in einen Käfer verwandelt wird. Frauensolidarität ist bei solch negativ gezeichneten Figuren natürlich nicht drin.

Die weiblichen Rollen sind sogar so begrenzt, dass weder Frauen noch Mädchen bei den Bösen mitwirken

Ich bin verwundert, dass die Autorin (sogar die Mutter einer Tochter) ein Buch so voller Klischees verfasst hat. Ist es denn wirklich schwieriger, sich eine Schulleiterin vorzustellen, die witzig und weise, intelligent und leidenschaftlich ist, als sich ein Einhorn mit Silberblut auszudenken? Braucht man mehr Fantasie, um eine kluge, mutige und liebenswerte Heldin zu entwerfen als den wunderbaren Speisesaal in Hogwarts?

Es ist leicht zu verstehen, warum Jungen Harrys Abenteuer lieben. Mädchen haben die Gabe, sich in männliche Rollen hineinzuversetzen (eine Fähigkeit der Empathie, die umgekehrt Jungen zu fehlen scheint), und die erlaubt es ihnen, sich nicht gemeint zu fühlen von den engen und begrenzten weiblichen Charakteren. Aber ich staune über die Eltern; schließlich lesen viele von ihnen begeistert die Harry-Potter-Geschichten gemeinsam mit ihren Kindern. Ist unser Wunsch nach einer Zauberwelt so tief, unser Drang nach Überraschung so stark, unsere Dankbarkeit für eine gut erzählte Geschichte so groß, dass wir bereit sind, unseren kritischen Verstand auszuschalten? Oder sind die Klischees in der Geschichte ein wichtiger Teil unserer Faszination – fühlen wir uns getröstet von einer Welt, in der die traditionellen Geschlechterrollen so unerschüttert sind?

Ich habe gelernt, dass Harry Potter eine heilige Kuh ist. Meine Einwände haben mir viel Kritik eingetragen. Potter-Fans betrachten mich als eine unverbesserliche, humorlose Feministin, die ihnen das kleine bisschen Spaß vermiesen will, das sie gerade für sich entdeckt haben. Dabei hat mir die fantastische Welt der Zauberer, Hexen, Bestien und Muggels genauso gut gefallen wie den anderen Lesern. Aber ist das ein Grund zu ignorieren, dass etwas Wichtiges fehlt? CHRISTINE SCHOEFER

Übersetzung von Ulrike Herrmann