Feeling der 70er

Echte Westernhelden müssen sterben: Jürgen Kruses „Hamlet“ am Thalia Theater  ■ Von Karin Liebe

Der Mann sieht aus wie Bob Dylan, der junge Dylan, in Sam Peckinpahs Western Pat Garrett jagt Billy the Kid. Das war Anfang der Siebziger, und der Musiker spielte eine kleine Nebenrolle. Dunkle kurze Locken, ein schmales Vogelgesicht mit scharfen Zügen, melancholischer, irgendwie sehr rätselhafter Blick. Warum nicht, so könnte Hamlet aussehen. Doch der Mann hier, der anfangs ganz allein am Bühnenrand des Thalia Theaters vor einem Meer weißer Rosen steht, spielt auch nur eine Nebenrolle: Horatio, den treuesten Freund von Hamlet, Prinz von Dänemark.

Wir sind im Theater, wir sind bei Shakespeare. Und trotzdem lässt das Western-Feeling einen bis zum blutigen Showdown nicht los. Niemand trägt hier Cowboyhüte oder schwingt das Lasso, so weit entfernt sich Regisseur Jürgen Kruse doch nicht von der elisabethanischen Vorlage. Es ist der Soundtrack, der einen vom Königreich Dänemark in den Wilden Westen entführt: sanfte Gitarrenklänge von Country bis Blues und finstere Sphärenklänge von den Animals bis Frank Zappa. Das Feeling der 70er - der Jugendzeit von Regisseur Kruse, Jahrgang 1959, der mit Hamlet zum ersten Mal in seiner Heimatstadt inszeniert.

Die Macht der Musik ist immer wieder erstaunlich. Da kann selbst das klamaukige Bühnengeschehen nicht die melancholische Grundstimmung vertreiben. Und so hält man sogar satte vier Stunden Sitzen aus, ohne Langeweile. Nur manchmal vergreift sich Discjockey Kruse im Ton und lässt die Musik platt nachspielen, was die Schauspieler vorspielen – oder ist es anders he-rum? Da läuft die wahnsinnig gewordene Ophelia (Judith Rosmair) wie ein aufgescheuchtes Huhn zur Parodie des Talking Head-Songs „Psycho Chicken“ (ein zeitlicher Ausrutscher) herum. Da entlockt Hamlet (Peter Jordan) der Blockflöte orientalische Klänge, und Ophelia lässt maniriert Kopf und Hüften dazu zucken.

Ach ja, Hamlet und Ophelia. Von Liebe ist hier nichts zu spüren, von Distanz um so mehr. Jürgen Kruse scheint überhaupt einem strengen Diktat zu folgen: Alle Emotionen fließen ausschließlich in die Musik, die Sprache legt sie wieder auf Eis. Da werden einzelne Worte so lange zerdehnt und betont, bis jeder Zusammenhang zerstört ist. Das Ensemble zerhackt und wiederholt die Silben so dezidiert, dass sich bisweilen ein neuer Sinn ergibt, meis-tens aber Unsinn - Sprachspielerei ohne Erkenntnisgewinn.

Worum geht es eigentlich in Hamlet? Um einen zaudernden Menschen, der erst im eigenen Todeskampf die Kraft findet, seinen Vater zu rächen? Um ein Königreich, das mit dem gewaltsamen Tod seines Herrschers aus den Fugen geraten ist? Um einen Sohn, der seine Mutter hasst, sie aber nicht töten darf? Kruse hat sich dafür entschieden, keine der möglichen Tiefen auszuloten, die nach Tausenden von Inszenierungen schon recht ausgeleiert sein mögen. Er versucht das Komische, das jeder Tragödie innewohnt, an die Oberfläche zu hieven. Mit dem traurigen Ergebnis, dass alles zur – durchaus unterhaltsamen – Show gerät und kaum eine Figur noch ernst zu nehmen ist. Beim sprechenden Geist des Vaters mag das noch verzeihlich sein, auch bei Rosenkranz und Güldenstern, den dümmlichen Aushorchern des Prinzen. Aber dass er Hamlet vom Melancholiker zum extrovertierten Sanguiniker verbiegt, zieht dem Stück den Boden unter den Füßen weg - und hinterlässt ein Schlachtfeld an effektvollen, aber folgenlosen Einfällen.

„Please sit down, relax & enjoy the show“, bittet Kruse im Programmheft. Wird gemacht. Zum Schluss hängt Polonius (Michael Altmann), der statt einer Karikatur ganz altmodisch einen väterlich-besorgten, gutherzigen Mann spielen durfte, kopfüber von der Decke herab. Er ist der eigentliche Held des Abends - und echte Westernhelden müssen sterben. Da schauen wir ganz entspannt und ungerührt zu.

weitere Vorstellungen: 24., 25. + 31.10., 20 Uhr, Thalia