Jeder sein eigener Charlie Chaplin

Von wegen Dummer August: Der Weg zur Komik ist hart. In der Clownschule von Uli Tamm werden Kindheitserinnerungen, Ängste und Hemmungen nach oben gespült  ■ Von Henrik Gast

Die erste Übung: Ohrfeigen. Zum Warmmachen etwas Klassisches aus dem Repertoire eines Clowns. In einem hellen Saal stehen sich die Clowns barfuß gegenüber. Mit viel zu weiten Hosen, rot-weiß gestreiften Hemden, Hosenträgern, silbernen Krawatten oder wollenen Pudelmützen. Die Clownsnase wird von der Stirn auf die Nase gesetzt. Das Duell beginnt.

Eine Clownin holt dreimal aus, dann fliegt ihr Arm durch die Luft. Die getroffene Gegnerin verzieht ihr Gesicht vor Schmerzen und hält sich die Wange. Die erste dreht sich, als würde sie direkt in die Augen der Zuschauer blicken und sich mit ihnen über den gelungenen Schlag freuen. Dann folgt die Rache. Die Gegnerin setzt zum Gegenschlag an, holt aus – und stoppt: „Ich will niemanden schlagen. Ich mag das nicht.“ Ihre Arme sinken herab. Uli Tamm greift ein: „Ute, sage jedesmal, wenn du schlagen willst: Ich finde das blöd.“ Wenn man sich die Erlaubnis gebe, etwas nicht zu mögen, sagt die Leiterin der Clownschule, „eröffnen sich neue Möglichkeiten“. Ute steckt ihren Widerwillen in den Satz hinein. „Auf diese Weise werden Blockaden gelöst“, sagt Tamm. Und schon sausen die Fäuste.

Einmal im Monat treffen sich die 13 TeilnehmerInnen in der Clownschule von Uli Tamm. Immer für ein Wochenende. Ein Jahr dauert der Kurs, wenn die Gruppe will, kann er auch verlängert werden. Nur die wenigsten wollen später öffentlich als Clown auftreten, die meisten wollen durch den Kurs den Alltag besser bewältigen. Aus den unterschiedlichsten Berufen kommen sie zusammen: Erzieher, Ärzte, Bürokauffrauen oder Vermesser. Jedesmal sprechen die Clowns über ihr Privatleben und erzählen, wie es ihnen geht, was sie empfinden.

Der eine hat eine Scheidung hinter sich, der andere Ärger im Betrieb. „Es ist wichtig, die eigenen Gefühle zu kennen und keine Angst zu haben, sie anderen mitzuteilen“, sagt Tamm. „Nichts ist intimer und persönlicher als der Weg zum Clown.“ Eine Figur entwickele sich „immer aus der eigenen Person heraus. Sie kann nicht von außen aufgesetzt werden wie die eines Schauspielers.“ Kränkungen, die man als Kind erlitten hat, treten wieder hervor und äußern sich in Hemmungen, Blockaden und Ängsten. „Auch in einer Clownschule fließen manchmal Tränen“, sagt Tamm. „Weinen und Lachen liegt nah beieinander.“

Bei einer Übung sollen die Clowns im Saal umhergehen. Jeder auf seine Art, aber immer clownesk. Der eine stampft wie ein Gorilla, der andere trippelt leise, spreizt die Hände aristokratisch vom Körper ab und wackelt mit dem Hintern. „Mit der Clownsnase können sich die Teilnehmer schnell in die eigene Kindheit zurückbegeben und werden angreifbar“, sagt Tamm. „Manche fürchten, dass sie ausgelacht, nicht ernst genommen, übersehen oder bespöttelt werden.“

Wer im Alltag als Arzt arbeitet, muss Grenzen überwinden, wenn er nach Feierabend, mit den Armen rudernd, mit dem Körper schla-ckernd und prustend, mit der Zunge aus dem Mund gestreckt durch den Raum rennen soll. Deswegen war die Gruppe auch nicht sofort einverstanden, dass ihre Übungen beobachtet werden. „Es ist sehr privat“, sagt Ute. „Für mich ist es eine Therapie. Ich lerne, mich besser wahrzunehmen.“

Gespannt sitzen die Clowns in einer Reihe, einige auf dem Holzboden, einige auf Stühlen. Lange haben sie ihre Figuren ausprobiert. Nun ist es Zeit, sie zu präsentieren. Jeder muss einen Weg finden, den eigenen Charakter clownesk darzustellen. Wie Charlie Chaplin einst sollen die angehenden Clowns etwas Eigenes entwickeln. Wenn sie bei einer Vorstellung den Faden verlieren, können sie auf ihre Handlungsmuster zurückgreifen.

Ulrike steht auf und zeigt, wie sie Clown ist. Sie rennt gebückt und schwingt die Arme rhythmisch auf und ab. Wie eine Eisenbahnlok bewegt sie sich und stöhnt „Uffta“ dazu. Es wird gelacht und geklatscht. Ulrikes Gesichtszüge verraten, dass sie nicht ganz genau weiß, wie es gemeint ist. Etwas betreten blickt sie nach unten. „Wie hast du dich gefühlt“, fragt Uli Tamm. „Ich weiß es nicht“, entgegnet Ulrike.

„Es ist wichtig, dass Innen und Außen übereinstimmen. Nur dann kann ein Clown authentisch gespielt werden“, sagt Tamm. „Wie wäre es, wenn du statt 'Uffta' sagen würdest 'ich komme, weg da'?“ Ulrike macht, wie ihr geraten, und dreht ein paar Runden, bis sie außer Atem ist. „Noch einmal“, sagt Uli Tamm. Ulrike stöhnt. So richtig wohl fühlt sie sich bei ihrem Auftritt nicht. „Das ist mir zu aufdringlich. Das bin ich nicht.“ Sie beschließt, Abstand davon zu nehmen und neue Figuren zu formen, die ihr besser entsprechen.

Die Ohrfeigen-Übung geht in eine neue Runde. Es knallt dreimal, Ute, die Clownin, versetzt ihrem Gegenüber Backpfeifen. Bei manchen ist es mehr, bei anderen weniger zu sehen, dass die Schläge ins Leere laufen. Dann fällt ihr Gegenüber hin. Wie tot. Ute guckt fassungslos, sie weiß nicht, was geschehen ist. Sie zieht den Clown am großen Zeh, leblos fällt er wieder zurück. Ute beugt sich über ihn und zupft an der viel zu weiten Hose, lässt den Gürtel flippen. Wieder keine Regung. Nun horcht sie, ob sein Herz noch schlägt. Ute blickt traurig, als wenn gleich Kullertränen über das Gesicht rollen würden. Plötzlich schnellt der schon Totgeglaubte hoch, versetzt Ute eine Ohrfeige, die sich gewaschen hat und läuft weg. Ute mit drohenden Fäusten hinterher. Eine typische Clowns-Szene.

In der Rolle des Clowns genießt Ute vor allem die Freiheit. „Ich kann aus allen Zwängen des Alltags fliehen und das machen, wonach mir der Sinn steht. Mit den Hüften wackeln oder die Zunge herausstrecken. Ein Clown darf alles.“

Nun will sie mit ihrer Familie nach Tunesien fliegen und während des Fluges ein Clownskostüm tragen: Rosa Hut, gelbes Sweat-Shirt, weiße Küchenschürze und natürlich die rote Nase. Die Clowns-Therapie hat angeschlagen.