Die Zeitdiebe vom Goetheplatz

■ Im Vergleich zur Expo ist das Bremer Theater bescheiden: Nur knapp vier Stunden braucht der Regisseur Manfred Karge, um Faust II als einen großen Abgesang auf das Theater, auf die Kunst und möglicherweise auf die Welt an sich zu inszenieren

In Sachen Goethes Faust setzt in diesem Jahr allein die Expo Maßstäbe, und deshalb verstehe ich die Minen der TheaterbesucherInnen nicht. Ernste, gedrückte, erwartungsschwere Ausdrücke in den Gesichtern der Leute vor dem Theater am Goetheplatz, wo drinnen gleich Manfred Karges aus dem Frühjahr verschobene Einrichtung der Tragödie zweiter Teil beginnt. Dabei sind für Karges Faust dem vorherigen Vernehmen nach nur knappe vier Stunden anberaumt, während sich Peter Stein in Hannover allerdings für den ganzen Faust 21 Stunden Zeit nimmt. Oder ist das mit dem Ernst, dem Gedrückten und Erwartungsschweren bloß wieder so eine Projektion eines Schreiberlings, der sich anstrengt, neugierig zu sein und alles, ja aber auch alles Wissen vorher von sich abzuschütteln? Da aber tuschelt jemand etwas von einem Probenbesuch und kommentiert's mit langweilig oder langwierig. Wohlan, wir haben einen Faust abzusitzen.

Jede Epoche, so lehrt der Schauspielführer, hat sich ihr eigenes Bild vom Faust gemacht. In unserer Epoche ist ganz unabhängig von der Interpretation einer Regie allein das Dauern ein Gegenbild. Auch wenn kurzweilige Unterhaltung keine so ganz neue Erfindung ist, ist Goethes mysteriöses und bildungsbeladenes Stationendrama mit seinem fortwährend schildernden und rekapitulierenden Sprachmeer schon von ganz allein anders als fast alles andere. Was die Filme von Jacques Rivette mit all ihrer Ruhe vom meisten anderen Kino unterscheidet, das hebt Goethes Faust und natürlich auch viel von Shakespeare gegen fast den ganzen Rest des Theaters ab. Man sitzt da auf dem Theatersessel und ist in eine fremde Zeit versetzt.

19 Uhr 15. Zehn Minuten Schaupiel sind vergangen. Am kaiserlichen Hof setzt sich das Treiben der Herren Mephisto und Faust fort. Im ersten Teil noch spielte es in der Welt der Psyche, jetzt wird Soziologie verhandelt: Dieser Faust hat schon viel erlebt, deshalb kann ihn kein Wässerchen mehr trüben. Den launisch und mächtig wie ein großes Kind gezeichneten Kaiser wickelt er locker um den Finger. Gleiches gilt erst Recht für das überwiegend schwarz und schon sehr bürgerlich kostümierte Personal von Kanzler und Hofschranzen. Und auch die Sphinxen und anderen griechisch-antiken Sagengestalten, denen Faust bald begegnen wird, können ihm im Gegensatz zu Mephisto nichts mehr anhaben. Wie alte, durch fast nichts mehr aus der Ruhe zu bringende Kumpane streifen diese beiden Time Bandits, Faust und Mephisto, von der Oberwelt in die Unterwelt ins „Hochgebirg“ und zurück. Kurzum: Sie verrichten hier ein letztes, großes, langes Alterswerk.

Mit der Abgeklärheit hält sich Manfred Karge durchaus an einen der roten Fäden aus der Tragödie zweiter Teil, zeichnet ihn aber überdeutlich. Auch für Goethes kleine ironische Schlenker wie den vor der klassichen Walpurginsnacht plötzlich ganz gehemmten Teufel, für den Witz und die Schönheit der Sprache hat der Regisseur ein Gespür. Einmal etwa legt Mephisto dem Faust dar, dass das „Hochgebirg“ der aufgegebene Standort Hölle ist. In dieser Szene ist die ansonsten teilweise mit über 30 SchauspielerInnen und MusikerInnen bevölkerte Bühne bis auf die beiden Hauptdarsteller leer. Allein durch die Sprache und ihr Zusammenspiel entfachen Kumpel Mephisto und Kumpel Faust einen Zauber, der wie jeder Theaterzauber nicht von dieser Welt ist.

Nur ganz selten fällt der Faust aus seiner abgeklärten Rolle. So zeigt Karge die erste Wiedererweckung der antiken Helena in so etwas wie einer neuen Deutung als Stummfilmeinspielung. Fausts Verhalten ist das eines Fans, eines Besessenen, das aber schon wenig später wieder abkühlt, als er der untoten, durch eine Maske sprechenden Helena persönlich gegenübersteht. Auf der Bühne, in der man während der Palastszenen auch den zerbrochenen Krug spielen könnte und die in den Unterweltszenen quer mit einer Wand blockiert ist (Bild: Achim Römer), sind Karge zwar durchaus Bilder eingefallen. Der goldkostümierte Faust sprengt da etwa bei seinem Auftritt am kaiserlichen Hof buchstäblich die Wand. Auch der maskierte Chor um Helena, der wie eine Sirene heulen kann, beschert einem da unten im Theatersessel ein starkes Bild. Doch insgesamt und trotz mancher modernistischen Kostümierung (Kostüme: Anna Cumin) wirkt die ganze Inszenierung doch seltsam geschichtlich und weit weg.

Es ist nämlich noch nicht lange her, da hätte in dieser ausufernden Tragödie, in der immerhin auch ein künstlicher Mensch erzeugt wird, nicht bloß in dieser Szene den Stoff für einen lauten Verweis auf die Gegenwart hergegeben (Gen-Tech! Gen-Tech!). Auch die klassiche Walpurgisnacht hätte gut dafür getaugt, einmal wieder auszutesten, wie viel Enthemmtheit dem Publikum zuzumuten ist. Doch hier kommt der Klon erst als nicht besonders gut geführte Puppe und dann als kleiner Mensch mit flackernden Lichterketten im Kostüm daher. Und die Opulenz der Untoten und Halbwesen aus dem alten Griechenland, vor der sich Mephisto doch so fürchtet, haben Karge und sein Team als Auftritt knautschig kostümierter Nackedeis und als Ballett einer Badegesellschaft mit Schwimmentchen und Luftmaträtzchen inszeniert. Es ist ... ja, wie ist es eigentlich? Ach, es ist Zeit, mal wieder die Arschbacke zu wechseln und das andere über's eine Bein zu schlagen.

Ya visto, schon gesehen, hat Goya eine seiner Zeichnungen unterschrieben. Und trotz einer recht guten Ensembleleistung, aus der Peter Pagel als Faust, Andreas Herrmann als plateaubesohlter Mephisto, Henriette Cejpek als Helena und Matthias Bundschuh als Kaiser glänzend herausragen, und anderer lobend erwähnter Angelegenheiten wirkt die ganze Inszenierung wie ein großes Ya visto. Es geht schon los mit den Kunstliederchen, die quasi als gesungene Zwischentitel jeden Szenenwechsel begleiten. Da schon und dann weiter formuliert sich hier ein Regieansatz, der abgeklärt und schon fast müde aus dem klassischen, klassisch-modernen und kürzlich noch dekonstruktivistischen Theaterfundus schöpft. Karge schließt am Ende den Kreis zum Anfang des ersten Teils und lässt Mephisto noch mal auf Gott treffen, der Fausts Seele in einem Arztköfferchen verstaut und den dabei leise Zweifel plagen. Faust ist tot. Das Gute hat gewonnen. Die Geschichte hätte auch anders ausgehen können. Es ist alles egal. Schnell raus in die echte Welt, in der es noch nicht so schlimm gekommen ist, ... wenn der Schein nicht trügt. Viel Beifall und nicht ein einziger Buhruf hallt aus dem Theater nach. Christoph Köster

Weitere Aufführungen: 20. Oktober sowie 10. und 17. November jeweils schon um 19 Uhr im Theater am Goetheplatz.