Operativ beseelt

Nach Stuttgarts 3:3 gegen den HSV ist der Expatron vom Wasen berauscht. Ist torreicher Fußball guter Fußball?

STUTTGART taz ■ Gerhard Mayer-Vorfelder schlüpfte schon ganz in die Rolle des künftigen Vorstehers des größten Sportverbandes der Welt. Auch wenn er noch Präsident des VfB Stuttgart ist und noch nicht Chef des DFB. Doch nach dem 3:3 gegen den Hamburger SV hatte er nur eines im Sinn: nicht die Interessen des eigenen Vereins, vielmehr das Ganze, das Wohl des Fußballs und das Gemeinwohl der Kundschaft. „So sollen Bundesligaspiele doch sein“, schwärmte also MV.

Beste Unterhaltung soll vorgeblich so sein: sechs Tore, jede Menge Strafraumszenen und Rote Karten (HSV-Trainer Pagelsdorf, HSV-Co-Trainer Reutershahn) noch dazu. MV kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus: „So soll Fußball sein.“ Mit einer Beseeltheit sagte er das, wie sie eigentlich nur MVs künftigen Vorgänger Egidius Pater Braun zu eigen ist.

Komisch irgendwie. Früher, als Mayer-Vorfelder noch der Patron vom Wasen war und das Amt operativ interpretierte, hätte er sich nicht an der Schönheit dieses Spiels berauscht. Iwo! Zeter und Mordio hätte er geschrien: zwei Mal geführt, Lattentreffer von Balakow. Und dann noch ein nicht gegebenes Tor. Dass Schiedsrichter Stefan Aust getreu den Regeln Balakows Freistoß zurückgepfiffen hatte, weil die Hamburger Mauer noch nicht postiert war, wäre Mayer-Vorfelder völlig egal gewesen. Drin ist drin, der VfB hätte 4:3 gewinnen müssen, ja, müssen – die einzig gültige Argumentation, die Mayer-Vorfelder zugelassen hätte. Basta. Stattdessen jedoch eine geradezu sanftmütige Spielanalyse: „Wir freuen uns alle über dieses schöne Spiel.“

Wir? Einer nahm sich da ganz sicher aus: Ralf Rangnick. Für den Trainer des VfB Stuttgart müssen es ganz schreckliche Minuten gewesen sein, die er zu begutachten hatte. Man erkannte das leicht an seinem Groll: „Natürlich war das ein fantastisches Spiel für die Fans.“ Und als er fast beiläufig sagte: „Offensivfußball kann man in der Bundesliga nicht viel besser sehen.“

Einerseits. Andererseits vertritt Rangnick Maximen, die aufs Äußerste strapaziert wurden im Spiel gegen den HSV. Eine heißt: „Erfolg im Sport ist planbar.“ Der Stuttgarter Trainer meint damit nicht, das Wunschergebnis für den Spieltag tags zuvor am Reißbrett entwerfen zu können. Das würde ja die Bannkraft des Fußballs geradezu ad absurdum führen. Zumindest aber dauert für Rangnick ein Spiel keine 90 Minuten, sondern eine Woche. „Wenn unter der Woche möglichst wenig Fehler passieren, dann haben wir ein hohes Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit.“ Heißt: Die Mannschaft vollendet idealiter im Spiel, was sie sich in der Vorbereitung erarbeitet hat.

Oder eben nicht – wie gegen den HSV. Nach der Anhäufung peinlicher Betriebsunfälle sparte Rangnick nicht mit Kritik: „Die Abwehrleistung war völlig unzureichend.“ Er führte das Fehlen der Stammkräfte in der Viererkette, Soldo und Carnell, zwar als mildernde Umstände an. Doch das begründet nicht, warum das Defensivverhalten „mit zeitlicher Verzögerung“ (Rangnick) vollzogen wurde. Nur gut, dass sich der Hamburger Kontrahent an die Reaktionsgeschwindigkeit der Stuttgarter anpasste. Pablo Thiam sagte bezeichnenderweise: „Wir haben einen Fehler zu viel gemacht.“ Der HSV auch.

Der VfB befindet sich jetzt jedenfalls in der misslichen Situation, dass schon Spiele gegen Unterhaching über die Richtung der Saison befinden müssen. „Die Weichen werden jetzt gestellt“, sagt Rangnick. Gerhard Mayer-Vorfelder vermisste zwar ebenfalls „einen Befreiungsschlag“. Tabellenplatz 14, wo gibt’s denn so was im Staate MV, in dem man sich per präsidiales Dekret immer an den internationalen Größen zu orientieren hatte. Vorbei die Zeiten? Offensichtlich. Denn Mayer-Vorfelder war immer noch mit dem Gemeinwohl beschäftigt: „Mehr kannst du dem Zuschauer nicht bieten.“ Und noch mal: „So soll Fußball sein.“ THILO KNOTT

VfB: Hildebrand - Meißner, Todt, Bordon, Schneider (46. Hosny/86. Ganea) - Thiam - Seitz (77. Pinto), Lisztes, Balakow, Gerber - Dundee HSV: Butt - Panadic, Hoogma, Hertzsch - Töfting, Barbarez, Kovac, Hollerbach (23. Fischer) - Präger, Yeboah, Heinz (18.), 1:1 Lisztes (22.), 2:1 Dundee (29.), 2:2 Barbarez (31.), 3:2 Dundee (46.), 3:3 Barbarez (59.)