Tableau interdisziplinärer Forscherseligkeit

Das im April gegründete Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität will sich Fragestellungen solcher Art annehmen, die eine wissenschaftliche Disziplin allein nicht beantworten kann. Der Prozess der Wissensordnung wird als „Theatrum naturae et artis“ öffentlich werden

von SEBASTIAN HANDKE

Schon wieder eine Wunderkammer. Es scheint, als läge im Jahr der Expo auch in Berlin die Totalschau in der Luft. Im Gropiusbau wurden jedenfalls die Zeichen der Zeit erkannt. Kaum haben wir die 7 Hügel verdaut, da wird am selben Ort schon der nächste Schrein geöffnet: Die Humboldt-Universität präsentiert ab dem 10. Dezember die Ausstellung „Theatrum naturae et artis – Wunderkammern des Wissens“. Diese universalistischen Messen sind wohl ein Gebot moderner Komplexitätsbewältigung: groß angelegte Tableaus interdisziplinärer Konvergenz und Forscherseligkeit. Während auf den 7 Hügeln der Mythos der Moderne polternden Schrittes den kurzen Weg von der Wunder- zur Rumpelkammer durchschreitet, wird es in diesem „Theater der Natur und Kunst“ um den Zauber der Wissenschaften gehen. Der 7-hügeligen Vielgestaltigkeit soll eine Bühne nachfolgen. Wenn man schon ohne die Einheit der Wissenschaft auskommen muss, so darf es doch ein gemeinsames Interesse geben, die Verflechtungen der Disziplinen hervorzukehren und ihre Grenzen – die ja keine theoretischen, sondern historische Grenzen sind – ein wenig durchlässig zu machen.

Hinter diesem Ausstellungsprojekt steht das im April diesen Jahres gegründete Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität Unter den Linden. Die Gedankenwelt Hermann von Helmholtz’, des Berliner Physikers (1821 bis 1894), der sich besonders um die Erforschung der Akustik verdient gemacht hat, bestimmt das Programm. Die Fragestellungen, derer sich das Zentrum annimmt, sollen von solcher Art sein, dass sie nicht von einer einzelnen Disziplin bewältigt werden können.

Aber nicht nur die Disziplinen sollen zueinander finden. Im günstigsten Fall möchten auch Universität und Museum ihre gegenwärtige Krise durch eine zumindest teilweise gemeinsam erarbeitete Neubestimmung ihrer Grundaufgaben bewältigen. Der Prozess der Wissensordnung eben als gesellschaftliche Aufgabe. Die Grundlage der Ausstellung sowie des Zentrums überhaupt bilden denn auch die bisher weit verstreuten Sammlungen der Humboldt-Universität. Mit der im 17. Jahrhundert eingerichteten Kunstkammer der preußischen Könige fing alles an. Später gesellten sich unter anderem die Ausgrabungen der Sudanarchäologie und Wachsmodelle der Mikrobiologie dazu, die Büsten der Gelehrtengalerie und das Archiv des literarischen Sonntagsvereins „Tunnel über der Spree“. Etwas weniger beschaulich geben sich die Kabinette der anatomisch-pathologischen Sammlung mit immerhin 8.000 medizinischen Präparaten: Wasserköpfe, Zwillingsmissbildungen und eitergefüllte Pestpusteln. Oder das Lautarchiv. Es versammelt Wachswalzen, Gelatine- und Schellackplatten und das etwas ältere Phonogramm-archiv zu einem gemütlichen Album von Dialekten, Musiken und Stimmenporträts. Vor allem aber ist da natürlich das Museum für Naturkunde, eine gewaltige Apotheose der präparierenden Dermoplastik mit mehr als 25 Millionen Einheiten.

Hinter der ursprünglichen Konzeption dieser Sammlungen als universalistischem Anschauungsraum und wissenschaftlichem Laboratorium stehen immerhin Namen wie Humboldt und Leibniz, welcher sich das „theatrum naturae et artis“ schon um 1700 als eine räumliche Einheit von Universität und Museum vorstellte. Expansions- und Differenzierungsdruck insbesondere der Naturwissenschaften sowie Kriegs- und Katastrophenschäden versprengten die Bestände in viele kleine Sammlungen. Lange Zeit wusste man nicht so recht, was man mit den vor sich hin gammelnden Reichtümern anfangen sollte.

„Solche Dinge kann man nicht planen.“ Jochen Brüning, Mathematiker und geschäftsführender Direktor des Helmholtz-Zentrums, hatte schon in seiner Zeit in Augsburg ein Institut für Kulturgeschichte gegründet. Als er 1995 nach Berlin kam, gab es hier ähnliche Interessen, die zusammen mit der virulenten Frage nach der Zukunft der Sammlungen und dem Projektbereich „Technisches Bild“, mit dem man den allseits begehrten Kunsthistoriker Horst Bredekamp an die Universität binden wollte, schließlich eine „kritische Masse“ ergaben, die die Idee eines fachübergreifenden Projekts „Bild, Schrift, Zahl“ fast von selbst erzwang. So wurde die Verfassung der Universität entsprechend geändert, um Raum für die interdisziplinäre Stätte der Begegnung zu schaffen. Acht Professoren der drei Berliner Universitäten sind dabei. „Man muss so etwas vorsichtig handhaben. Wenn der Kreis von vornherein zu groß ist, entstehen keine wirklichen Verbindungen. Ist er zu klein, werden die Reibereien zu schnell zu groß. Das ist ziemlich subtil.“

So stellt man sich das vor: eine behutsame Interdisziplinarität, vom Gegenstand diktiert. „ ,Aber davon verstehen die doch gar nichts!‘ sagen die meisten, und das ist schon richtig zu einem Teil“, gibt Brüning zu. Denn jeder Spezialist wird auf dem Territorium angrenzender Disziplinen zum Dilettanten. „Aber es gibt niemanden, der davon als Fach etwas versteht. Das sind Fragen, die zwischen den Fächern sitzen. Aber die drängenden Fragen, die sind von dieser Art.“

Nun sind die derzeitigen Unternehmungen des Zentrums nicht unbedingt von der wirklich drängenden Art. Doch beispielhaft für das, was hier versucht wird, sind sie schon. Da geht es bei dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho um die Art und Weise, wie die Kalenderrechung das Leben der Menschen geprägt hat. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler sucht nach der Rückwirkung der Musiktheorie des 17. und 18. Jahrhunderts auf die Mathematik. Und Bredekamps Projekt ,Das Technische Bild‘ fragt nach der Qualität von Bildern, die von technischen Medien hergestellt werden.

Der Aufbau der Bilder- und Objektdatenbank Imago ist Teil dieses Projektes und wird gleichzeitig alle anderen Bereiche des Helmholtz-Zentrums untereinander vernetzen: Ein digitaler Wissensspeicher mit einem ausgeklügelten System von Verknüpfungen, in dem man sich mittels eines Top-down-Prinzips von eher populärwissenschaftlichen Ausgangsfragen immer tiefer in den Erdboden akademischer Verweisungs- und Klassifizierungswut eingraben kann. Von den pathologischen Präparaten Rudolf Virchows gelangt man dann ohne Umschweife zur Archäologie – als spätberufener Anthropologe hatte sich der Universalgelehrte an den Ausgrabungen in Troja beteiligt. Archivare, Kulturhistoriker, Informatiker und Vertreter der Einzeldisziplinen arbeiten zusammen an diesem akkumulativen Zettelkasten – ein virtuelles „Theatrum naturae et artis“, das später der Öffentlichkeit für Recherche und Bildforschung zur Verfügung gestellt werden wird. Dann soll die von der VW-Stiftung unterstützte Software sogar Geld abwerfen – Leibniz musste für sein Naturtheater noch Steuern auf Reisepässe und Maulbeerbäume erheben.

In seinem 1959 erschienenen Buch „The Two Cultures and the Scientific Revolution“ hatte C. P. Snow – als Schriftsteller, Wissenschaftler und Berater der britischen Regierung während des zweiten Weltkriegs selbst ein Wanderer zwischen den Welten – verfügt, dass sich die Naturwissenschaften auf der einen und die Geistes- und Kunstwissenschaften auf der anderen Seite in zwei inkommensurablen Universen ausdifferenziert hätten. Aber in einer Zeit, in der auf der einen Seite des Grabens alle Mühe aufgewendet wird für den Übergang vom deutsch gebliebenen Begriff des „Geistes“ zu einer Bereiche wie Technologie, Ökonomie und Politik einbeziehenden Vorstellung der Kulturwissenschaften als „humanities“, scheint die Zeit günstig zu sein für das große Comeback der Transdisziplinarität. Zumal auf der anderen Seite die Modelle der Wissenschaft selbst zu Literatur werden und immer mehr den Charakter von ästhetischen Konstrukten annehmen. Über die Objektwelt der Technologie als Bestandteil der Kultur muss nachgedacht werden. Das darf über feuilletonistische Versuche wie das fünfseitige Abdrucken vierbuchstabiger Sequenzen in der FAZ schon hinausgehen.

Für Odo Marquard sind die „reagierenden“ Geisteswissenschaften nur Kompensation von Modernisierungsschäden der „herausfordernden“ Naturwissenschaften. Die kleine Armee von Studenten und Jungakademikern, die am Helmholtz-Institut unter der Regie eines verwegenen Haufens von acht Dilettanten das Theater der Natur und Kunst inszeniert, wird dagegen im transdisziplinären Crossovers möglicherweise etwas von dem Beitrag sichtbar machen, den die Kulturwissenschaften beim Prozess des „knowledge managements“ tatsächlich leisten können.