Bis die Tränen kamen

■ Sternstunde mit Bach: Die Pianistin Pi-Hsien Chen interpretierte die Goldberg-Variationen

Mit Sicherheit sind die knapp eineinhalbstündigen „Goldberg-Variationen“ von Johann Sebastian Bach nicht nur das größte, sondern auch das komplizierteste und vielschichtigste Variationenwerk des Barock. Bach schrieb 1740 die „Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit zwei Manualen“ im Auftrag des Grafen von Keyserling, der für seinen Vorspieler Johann Teophilus Goldberg einige aufmunternde Klavierstücke haben wollte, um seine Schlaflosigkeit zu lindern.

Herausgekommen ist ein geradezu gigantisches Kompendium aller damals zu beherrschenden Kompositionstechniken. Aber nicht die sind's, die dieses Bachsche Werk so faszinierend machen, sondern die geniale kompositorische Ausführung, die einen ganzen Kosmos an Atmosphären erreicht: eine Riesenanforderung für PianistInnen, vergleichbar wohl nur der der Diabelli-Variationen von Ludwig van Beethoven oder auch dessen Hammerklavier-Sonate. Kein Zufall, dass beispielsweise der legendäre Piano-Exzentriker Glenn Gould das Werk gleich zweimal – 1955 als Zweiundzwanzigjähriger und ein Jahr vor seinem Tod 1981 – eingespielt hat, kein Zufall auch, dass der große Jazzpianist Keith Jarrett in einer wunderbar unspektakulären Aufnahme auf jegliche Effekte verzichtet, die man vielleicht gerade von einem Jazzpianisten erwartet.

Viele in Bremen wussten wohl, dass jede Aufführung schon ein Ereignis an sich ist, viele wussten aber auch, was von der taiwanischen Pianistin Pi-Hsien Chen zu erwarten ist, die den Zyklus jetzt in der gut besuchten Galerie Katrin Rabus interpretierte. Auch Chen widmet sich dem Werk zum zweiten Mal, ihre CD ist von 1985. Sie spielt bewusst und gekonnt klavieristisch, schlank, pointiert, linear, man kann heute nicht sagen, dass das Cembalo der einzige Weg zu Bach ist. Chens Ansatz ist in der Anlage durchaus der von Gould vergleichbar, selbstverständlich ohne dessen ausladende Übertreibungen. Chen versenkt sich außerordentlich persönlich und meditativ in Linien und Strukturen, bietet aufregende Artikulationen und geradezu verstörende Tempi – die sie mit bestechender Konsequenz durchführt.

Das interpretatorische Ergebnis dieser Sternstunde – am Ende erhob sich das Publikum so spontan und demonstrativ, dass Chen die Tränen kamen – war die scharfe Akzentuierung der unterschiedlichen Charaktere des Zyklus. Das geht weit über das Vorzeigen von Kompositionstechniken hinaus. Es war die permanente Spannung zwischen Expression und Konstruktion, die Kunst, wie sie das Espressivo aus der Kanon- und Fugenkonstruktion herausschlägt. Das tat die Pianistin und Professorin an der Kölner Musikhochschule mit explosiver Energie, mit besinnlicher Lyrik, mit humorvoller Bizarrerie. Wunderbar auch, wie sie die Wiederholungen geringfügig variierte, damit in eine andere Atmosphäre tauchte.

Die fragile Wiederholung der Aria am Schluss klang wie ein erschöpftes Gebilde nach der langen Wanderung durch dreißig Metamorphosen. Klar, dass der schlafgestörte Graf nicht eingelullt, sondern auf das intelligenteste und emotionalste unterhalten werden sollte. „Sanft und munter“, wie der gräfliche Wunsch war, sind die Stücke jedenfalls nicht und schon einmal gar nicht in der hochgespannten Wiedergabe von Pi-Hsien Chen. Ute Schalz-Laurenze