Im Westen was Neues

Morgen wird Bärbel Grygier zur Bürgermeisterin im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gewählt. Sie wird die erste von der PDS gestellte Rathauschefin, die auch für ein Stück der westlichen Welt zuständig ist. Die Ostfrau ist unkonventionell und eigenwillig, liebt Ärsche und einen Wessi

von SABINE AM ORDE

Sieht man von den roten Haaren einmal ab, sind die Frauen, die es bei der PDS in die erste Reihe schaffen, gewöhnlich vor allem eins: blass, unauffällig und vorsichtig. Die frisch gekürte Parteivorsitzende Gabi Zimmer ist so ein Frauentyp, auch die Berliner Landeschefin Petra Pau. Bärbel Grygier ist anders: Sie ist nicht nur blond und attraktiv, sie ist auch unkonventionell, eigensinnig und streitbar. „Streit ist das Einzige, was Entwicklung bringt“, das ist Grygiers Lebensprinzip.

Und deshalb streitet die promovierte Psychologin: mit den Berliner Fachpolitikern der großen Koalition, mit SPD, CDU und Grünen in ihrem Bezirk und auch mit der Partei, die die 45-jährige, parteilose Politikerin zur Bürgermeisterin im Ostberliner Bezirk Hohenschönhausen gemacht hat: mit der PDS.

Die hat sie jetzt – trotz aller Auseinandersetzungen – für ein neues Amt nominiert. Wenn Anfang des Jahres im Zuge der Berliner Bezirksreform Kreuzberg (West) und Friedrichshain (Ost) zu einem Bezirk verschmelzen, wird Bärbel Grygier hier Bürgermeisterin sein. Und damit übernimmt „Frau Doktor“, wie es im Osten noch immer heißt, einen symbolträchtigen Ort: Sie wird als erste PDS-Rathauschefin auch für ein Stück der westlichen Welt zuständig. Zudem hat sich hier erstmals ein Linksbündnis aus PDS, SPD und Grünen zusammengetan.

„Ganz einfach war das im Vorfeld nicht“, gibt Grygier unumwunden zu. „Aber das etwas einfach glatt geht, gehört sowieso nicht zu meinen Erfahrungen.“ Am Freitagabend, als die Kreisdelegiertenkonferenz der PDS zur Kandidatennominierung zusammenkommt, ist sie dann „doch etwas nervös“. Grygier, lange als Wunschkandidatin des Berliner Landesvorstands bekannt, ist sehr kurzfristig in die Bresche gesprungen: als der ursprüngliche Kandidat Dieter Hildebrandt wegen Korruptionsvorwürfen auch aus der eigenen Partei vor zwei Wochen entnervt das Handtuch warf. Manche Friedrichshainer Genossen, im Gegensatz zu den undogmatischen Kreuzbergern zahlreicher, älter und eher konservativ, aber wollen Grygier nicht: Sie bevorzugen eine kalkulierbare Kandidatin. Eine aus den eigenen Reihen.

Die Ortskundige

Jetzt steht die Kandidatin vor den Genossen im Erich-Fried-Gymnasium in Friedrichshain und weiß, dass von ihrem Auftritt vieles abhängt. In ihrem grauen Hosenanzug sieht sie biederer aus als sonst. Die Hände, die gewöhnlich wild gestikulieren, hat sie verschränkt. Nur den Genossen nicht zu viel zumuten. „Ich stehe hier, weil ich euch um einen Vertrauensvorschuss für die gemeinsame Perspektive bitten will“, sagt sie.

Dem neuen Bezirk ist Grygier schon lange verbunden, fast ihr ganzes Leben hat sie in Friedrichshain verbracht. Erst vor drei Jahren zog sie fort, nach Kreuzberg. Ein Umzug aus der quirligen Innenstadt in den Plattenbaubezirk Hohenschönhausen, den man der Bürgermeisterin nahe legte, hat sie abgelehnt.

„Ich habe in Hohenschönhausen Spuren hinterlassen“, sagt Grygier, die vor ihrem Job als Bürgermeisterin die Gesundheitsstadträtin des Bezirks war: mit einer Studie zu Rechtsextremismus, die sie beim Zentrum für demokratische Kultur in Auftrag gegeben hat. Mit der Jugendzahnklinik, einem bundesweit einzigartigen Präventionsprojekt. Mit der ersten Mitgliedschaft eines Ostbezirks im Netzwerk Gesunder Städte der Weltgesundheitsorganisation. Mit der Umweltambulanz. Für diese „sozial ausgerichtete Gesundheitspolitik“ hat sich Grygier gleich nach ihrer Wahl einen Experten in ihre Verwaltung geholt: ein Mitglied der Grünen aus dem Westteil. „Die Zusammenarbeit war nicht immer leicht, hat sich aber gelohnt“, sagt sie. „Zwischen Ost und West muss man besonders viel kommunizieren.“

Grygier hat in Hohenschönhausen einen neuen Umgangsstil eingeführt, weniger hierarisch, unkonventionell, direkt. Einmal im Jahr geht sie mit allen Stadträten in Klausur, „weil man sich da über gemeinsame Ziele austauschen kann und dann jeder vielleicht auch ein bisschen zurücksteckt“. Denn mit Blick auf die kommunalpolitischen Notwendigkeiten, so sie ihre feste Überzeugung, seien die Stadträte oft gar nicht so weit voneinander entfernt – wenn die Parteiinteressen außen vor bleiben. Und über alles andere muss eben gestritten werden.

Die Streitfähige

Darin ist Grygier gut, das bescheinigen ihr selbst politische Gegner – und auch die eigene Fraktion. „Sie ist konflikt- und streitfähig. Und eine starke Frau“, sagt Jürgen Hoffmann, der PDS-Fraktionsvorsitzende. Mit ihm und seinen Abgeordneten hat Grygier über Parkplätze gestritten und den Bau von Einfamilienhäusern an einem Landschaftspark. „Das geht nicht zusammen mit der sozialen und ökologischen Politik, für die ich stehe“, sagt sie. Den Ärger mit der PDS nimmt sie in Kauf. „Ich bin ich ja sowieso für PDS-Politik mit grünem Einschlag verschrien.“ Ob sie sich auch Politik auf grünem Ticket vorstellen kann? „Nein“, antwortet Grygier prompt und stutzt dann. „Die Sozialisation ist eine andere.“

Manchmal aber, das weiß sie selbst, schießt sie übers Ziel hinaus. Wie mit dem Vorschlag, die kalifornische Luxusgemeinde Beverly Hills für eine Städtepartnerschaft mit ihrem Plattenbaubezirk zu gewinnen, oder als sie in Hohenschönhausen eine der in der Innenstadt räumungsbedrohten Wagenburgen ansiedeln wollte. Die PDS – und nicht nur sie – schrie auf. Und auch die Rollheimer wollten nicht in den Außenbezirk. „Das hab ich unterschätzt, das hätte mich fast den Kopf gekostet“, sagt sie und lacht. Die Sozialdemokraten forderten damals, drei Jahre ist es jetzt her, ihren Rücktritt. Sie ließen 20.000 Flugblätter gegen Grygier drucken, die in Hohenschönhauser Briefkästen landeten. Ein Abwahlantrag in der Bezirksverordentenversammlung scheiterte nur knapp. Im vorigen Jahr legte sich die Bürgermeisterin mit dem SPD-Finanzstadtrat an, weil dieser angeblich eine Armbanduhr als Geschenk angenommen hatte. Grygier warf ihm vor, „der Korruption Vorschub geleistet zu haben“ – als bekannt wurde, dass die Uhr gerade 5 Mark wert ist, war es zu spät.

All das kam am Donnerstag wieder auf den Tisch, als sich Grygier mit der SPD, deren Stimmen sie morgen bei der Wahl zur Bürgermeisterin des neuen Großbezirks braucht, zu Vertrauen bildenden Maßnahmen traf. Das kann sie. Auf Leute zuzugehen und sie für sich einzunehmen, das ist Grygier noch nie schwergefallen. Dabei scheut sie auch vor dem Einsatz von weiblichem Charme nicht zurück. Wie es war mit Frau Grygier? „Richtig nett“, sagt der Vorsitzende der neuen SPD-Fraktion und glaubt, dass die Bedenken gegen die Kandidatin ausgeräumt sind.

Die Direkte

Dazu gehörte auch die Geschichte mit dem Arsch, die Grygier seit Jahren verfolgt. Ende 1995, kurz vor ihrer Wahl zur Bürgermeisterin, hatte sie sich vor laufenden Fernsehkameras über Sex und Politik ausgelassen und gesagt: „Wenn ich jemand auf diese Weise entdecken kann, fass ich gern mal Ärsche an, Männer- und Frauenärsche gleicherweise.“ Und dann titulierte sie noch ihren SPD-Gegenkandidaten als einen, „der keinen Arsch in der Hose hat und zum Zupacken viel zu kleine Hände.“ Das hätte ihr fast das Amt gekostet. „Untragbar“ fanden plötzlich SPD und CDU die Kandidatin, die kurz zuvor noch „eine kompetente Gesundheitspolitikerin“ war. Selbst die PDS bekam Bauchschmerzen. Vier Wahlgänge brauchten die Bezirkspolitiker, bis sie Grygier dann doch zu ihrer Bürgermeisterin machten. Die „Arsch-Affäre“ tut Grygier heute dennoch nicht leid. „Ich bin nun mal direkt, das ist meine Art.“

Im Erich-Fried-Gymnasium sind jetzt Fragen an die Kandidatin erlaubt. Ob sie nicht endlich Mitglied in der Partei werden will? Bärbel Grygier holt Luft, kratzt sich am Hals – und dann strahlt sie in die Runde, wie nur sie strahlen kann. „Ich finde den Beschluss der PDS, die Partei für alle zu öffnen, die auf ihrer Plattform Politik machen wollen, fundamental und ein neuen Politikansatz“, sagt sie knapp. „Dafür stehe ich seit zehn Jahren.“

Streitbar und direkt ist sie schon als Kind gewesen. Damals in der ersten Klasse, als sie aus dem Schulunterricht zum Bäcker gerannt ist, weil es langweilig ist und sie Hunger hat. Oder später beim Fahnenappell im Schulhof, als sie nicht versteht, warum man dort auch im Winter im FDJ-Hemd erscheinen muss. „Das konnte mir auch niemand erklären, also hab ich’s nicht gemacht.“ Nicht ohne Konsequenz: Die Lehrer bescheinigten ihr zwar Intelligenz, aber auch einen fehlenden Klassenstandpunkt – „ich durfte nicht zum Abitur“. Das holte sie bald nach und hat – anders als in der DDR üblich – zehn Jahre lang studiert: zuerst Mathematik und dann klinische Psychologie. Dabei war sie so gut, dass die Humboldt-Universität sie mit einer Reise ins kapitalistische Ausland belohnen wollte. Grygier wollte nach Paris zum Louvre. Als nur Westdeutschland im Angebot war, sagte die undankbare Genossin ab. Zwei Jahre später besucht sie den Prado in Madrid – wieder auf Einladung der Universität.

Die Sexberaterin

Grygier war SED-Mitglied und ließ es nicht zum Bruch kommen, auch wenn sie mit der Partei nichts anfangen konnte. Sie testete die Grenzen des DDR-Lebens aus. Sie wechselte die Arbeitsstellen, was nicht gerade üblich war. Als Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium vermarktet sie „Bypassoperationen und irrwitzige Sauerstoffmehrschritttherapien“ gegen Devisen. Als Ehe- und Sexberaterin macht sie Aufklärungsunterricht im Fernsehen und im Radio, spricht über Orgasmusprobleme, Penislänge, Frigidität. Ihre Sendung „Sex nach Sieben“ auf dem DDR-Jugendsender DT 64 wird zum Geheimtip weit über das jugendliche Alter hinaus. „Das war die erste Livesendung im DDR-Radio“, sagt sie stolz. Und eine gute Erfahrung: „Wenn du mit jemanden über seine Sexualität reden kannst, kannst du über alles reden.“

Von dem DDR-Kleinfamilienideal, das Frauen Karriere und Kinder vorschreibt, hält sie nichts. Bärbel Grygier ist unverheiratet und kinderlos. Liiert ist sie seit vielen Jahren mit einem grünen Bezirkstadtrat aus dem Westteil Berlins, eine Wohnung teilen die beiden nicht. „Da bleibt die Lust aufeinander und die bewusste Gestaltung der Zeit, die man zusammen verbringt.“ Erfahrung in der Ost-West-Komminikation hat Grygier also nicht nur in der Politik. „Diese Auseinandersetzung betreibe ich schon lange“, sagt sie und lacht.

Bei den Kreisdelegierten hat inzwischen die Bundestagsabgeordnete Christa Luft das Wort ergriffen, die für die Friedrichshainer eine Heldin ist. Zwei Kriterien mindestens sprechen aus ihrer Sicht für Grygier: „Sie hat Verwaltungserfahrung und mit anderen Parteien schon zusammengearbeitet.“ Auf der Landesebene drückt man sich klarer aus: „Die Frau hat Erfahrung und Format. Die kann auch im Westen Punkte machen.“ Sogar als Spitzenkandidatin für die Berliner Landtagswahl war sie im Gespräch – doch sie hat gleich abgewinkt: „Ich mache lieber praktische Politik als Oppositionsreden zu schwingen.“

Der wird sie sich in Friedrichshain-Kreuzberg bald widmen können. Denn schließlich hat die PDS sie dann doch mit großer Mehrheit zur Kandidatin gekürt. Morgen werden PDS, SPD und Grünen sie zur Bürgermeisterin machen. Bis dahin wird Grygier wohl etwas weniger unkonventionell, eigensinnig und streitbar auftreten – und vermutlich im Fernsehen auch nicht über Sex und Ärsche reden. „Ich habe schließlich gelernt.“