Erinnerungen eines Insiders

Karel van Miert hat seine Memoiren geschrieben. Immer wieder zeigt der ehemalige EU-Wettbewerbskommissar, wie Politiker zu Lobbyisten wurden. Beim Skandalfall Leuna wird sein Buch sogar brisant. Nur Selbstkritik fehlt leider

Schreiben Sie über Brüssel, was Sie wollen, man glaubt es doch. So lautet ein geflügeltes Wort über die Europäische Kommission, deren 16.000 Beamte sich nach allgemeinem Vorurteil tagsüber vor allem Krümmungsnormen für Salatgurken ausdenken und diese dann abends bei Hummerhäppchen feiern. Ein früherer Insider hat sich dem Imageproblem jetzt angenommen. Unter dem Titel „Markt, Macht, Wettbewerb“ schildert Karel van Miert seine Erfahrungen als EU-Kommissar.

Alle (Vor-)Urteile über das bürgerferne Brüssel wird das Buch nicht abbauen, doch lesenswert ist es allemal, denn es sind die Memoiren eines guten Eurokraten. Karel van Miert zählt zu den bislang profiliertesten Kommissaren der EU. Von Jacques Delors 1989 zunächst als Verkehrskommissar berufen, leitete er ab 1993 bis zu seinem Ausscheiden 1999 das Schlüsselressort Wettbewerb. Van Miert war zuständig für einen Bereich, der wie kein zweiter die gewachsene Macht der Kommission widerspiegelt, nämlich die Durchsetzung fairer Spielregeln auf dem Binnenmarkt. Dabei geht es eigentlich um abschreckend technische Materien wie Marktliberalisierung, Fusionen und Subventionen. Um so mehr Lob gebührt van Miert und seinen Mitarbeitern Guy Janssen und Stefan Rating daher dafür, dass sie die Arbeit eines Wettbewerbkommissars verständlich und frei von den sonst üblichen EU-Sprechblasen darstellen.

Der 1942 im flämischen Oud-Turnhoud geborene Bauerssohn van Miert gehört zur Generation Kohl, deren europäische Gesinnung durch die Kriegserfahrung als Kind geprägt wurde. Sein erstes europäisches Erlebnis hatte der kleine Karel im Alter von drei Jahren, als deutsche Wehrmachtssoldaten der Familie das einzige Fahrrad wegnahmen – eine bei unseren belgischen und niederländischen Nachbarn bis heute sprichwörtliche Episode der Okkupationszeit. Ressentiments sind bei van Miert deshalb nicht zurückgeblieben. Im Gegenteil, seinen Ruf in der Kommission beschreibt er als „deutschfreundlich“.

Tatsächlich behandelt van Miert die Bundesrepublik mit äußerster Zurückhaltung. Dabei hätte er Grund genug zur Schelte, denn mit keinem anderen Land hat der Wettbewerbshüter häufiger schlechte Erfahrungen gemacht. Vom Verbot von Finanzhilfen für die WestLB über die Aufhebung der Buchpreisbindung bis hin zur Rückzahlung unerlaubter Subventionen zieht sich eine Linie kontroverser Entscheidungen, die van Miert hierzulande zu Unrecht zum Buhmann gemacht haben.

Diese und eine Vielzahl anderer Fälle arbeitet van Miert in der für Eurokraten typischen Form des Dossiers auf. Das Muster ist stets die Geschichte von David gegen Goliath. Van Miert ist David, Hüter der EU-Verträge, der unerschrocken für fairen Wettbewerb zum Wohle von 375 Millionen Verbrauchern kämpft. Goliath tritt zumeist in Gestalt des mächtigen Konzernmanagers auf, der sich über dem EU-Recht glaubt. Meist trägt David den Sieg davon – durch Auflagen, Verbote oder Geldstrafen.

Van Mierts Schilderungen werfen ein erschreckendes Licht auf die europäischen Wirtschaftseliten und die Politik. Die EU-Regierungen haben selbst jenes EU-Recht geschaffen, auf dessen Grundlage die Kommission gegen wettbewerbswidrige Praktiken vorgeht. In der Praxis jedoch erlebte van Miert immer wieder, wie sich nationale Führungen als Wirtschaftslobbyisten aufführen. Sie betreiben nicht zuletzt deshalb eine doppelbödige Europapolitik, weil sie oft selbst im Verdacht verbotener Subventionsvergabe stehen.

Aus diesem Grund beschäftigte sich van Miert ab 1996 auch mit dem Fall Leuna. Hier gewinnt das Buch sogar aktuelle Brisanz. Zwar hat die Kommission bisher keine gerichtsfesten Beweise für rechtswidrige Finanzhilfen gefunden, doch van Miert schildert zugleich, warum die Suche vergeblich war. Schon im Frühjahr 1998 nämlich ließen deutsche Beamte seine Mitarbeiter wissen, „sie könnten keine weiteren Informationen besorgen, da diese nicht mehr auffindbar seien“. Zumindest Teile der Leuna-Akten sind folglich lange vor den Bundestagswahlen 1998 vernichtet worden. Es war also kein bei Regierungswechseln üblicher Vorgang, wie von CDU-Politikern stets betont wird. Der Reißwolf im Bundeskanzleramt muss schon sehr viel früher angeworfen worden sein.

Weit weniger aufschlussreich berichtet van Miert dagegen über die Missstände in der Kommission. Zunächst räumt er noch „Fehlfunktionen und Mängel“ ein, die natürlich „gnadenlos“ aufgeklärt werden müssten. Doch dann bleibt die Selbstkritik stecken. Seinen belgischen Kollegen Paul van Buitenen erwähnt van Miert mit keinem Wort, obwohl dessen Gang an die Öffentlichkeit 1999 entscheidend zum Rücktritt der Kommission Santer beigetragen hat. Die Ursachen für Santers Demission sieht van Miert vielmehr in einem Komplott unfairer Experten und hysterischer Medien, die von einem geltungssüchtigen Europaparlament geführt werden, das selber „wegen üppiger Aufwandsentschädigungen und des Missbrauchs“ unter Beschuss geraten war. Eine Version der Ereignisse, die doch sehr an den Umgang der CDU mit ihrer Parteispendenaffäre erinnert.

Van Mierts Buch offenbart letztlich das Dilemma der Kommission, das der Kluft zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zugrunde liegt. Einerseits verdient das Wirken van Mierts für Europa unsere ungeteilte Anerkennung. Die Kommission braucht streitbare und zugleich loyale Beamte nach seinem Vorbild, um sich gegen die konzertierte Interessenpolitik von Großkonzernen und Mitgliedsstaaten behaupten zu können. Diese in mancher Hinsicht notwendige Loyalität hindert van Miert jedoch zugleich, die Kommission offen und mit kritischer Distanz zu betrachten. Zu mehr demokratischer Transparenz trägt das Buch daher nicht bei. Auch ein guter Eurokrat macht am Ende noch keine gute Eurokratie. CARSTEN SCHYMIK

Karel van Miert: Markt Macht Wettbewerb – Meine Erfahrungen als Kommissar in Brüssel, DVA, 399 S., 49,80 DM