Love fast, die young

„Ich will keine Kinder und ich will auf einem Schloss leben“: Die Schweizer Erzählerin Simone Meier lässt in „Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben“ ihre Heldin den Sissi-Traum von Ruhm und wahren Gefühlen träumen – und dafür bezahlen

Wer die Romane junger deutschsprachiger Autoren liest, kann so manches über die Menschen und die Liebe erfahren. Zum Beispiel, dass die Liebenden meist etwas suchen, woran sie nicht glauben; dass ihre Zweifel größer sind als ihre Sehnsucht und ihre Bilder von der Liebe mächtiger als das Leben; und wenn die Menschen auf sich selber blicken, dann ist es, als wären sie selbst ein Bild. Man erfährt auch, dass Frauen entscheidungsfreudiger sind als Männer, doch obwohl sie sich nehmen, wen sie wollen, bleibt ein grundsätzliches Gefühl von Leere und Einsamkeit zurück.

Auch in dem Debüt der Schweizerin Simone Meier, Jahrgang 1970, finden sich diese Konstanten in Variationen wieder. Die schöne, junge Lou, die für ein Lifestyle-Magazin gehobenes „Atmosphäre-Konfekt“ schreibt, liebt Clemens, doch der lebt mit einer Blonden, weshalb Lou nun wieder mit diversen Ersatzliebhabern durchaus komfortabel Vorlieb nimmt. Von den Ups and Downs dieses Lebens erzählt Meier pointiert und elegant, intelligent und unterhaltsam, also so, wie man es von einer jungen deutschsprachigen Erzählerin erwartet. Und auch die abgenutzte Kritikerformel von der „ironischen Distanz“ will ich ihr nicht ersparen, denn so ist nun mal das Verhältnis der Autorin zum Romangeschehen.

Interessanter als dieses Gerippe von Plot sind hingegen die Bezugspunkte, die wie Sonnen um Lou und Clemens kreisen und dem realistischen Handlungsrahmen jene Leuchtkraft geben, die er selbst nicht besitzt. Einen solchen Bezugspunkt bildet zunächst einmal die Parallelerzählung vom Leben der Großmutter. Verena Nyffenegger will sich mit ihrem ärmlichen Dasein als Näherin in der Dorffabrik auf keinen Fall abfinden, und weil sie schön ist und hartnäckig und dazu etwas Glück hat, schafft sie es als Mannequin bis auf die Laufstege Italiens. Doch letztlichscheut sie das Feuer, und die Unschuld vom Lande, die davon träumt, Sissi zu sein, kehrt in geordnete Verhältnisse mit Mann und drei Kindern zurück.

„Mein Lou-Mädchen“ wird die Großmutter von ihrer Berliner Schauspiel-Freundin genannt, und sie meint Lou Andreas-Salomé, die Muse Rilkes und Nietzsches. „Lou war auch eine Unerschrockene und Neugierige wie du, ein ewiges Kind, das Liebe nahm, wo Liebe vergeben wurde, und den Menschen pure Gedankendiamanten zurückgab“, schreibt die Freundin. Viele Jahre später wird Verenas Enkelin nach der Muse, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Andreas-Salomé benannt werden. Und diese Lou unserer Tage („Ich will keine Kinder und ich will auf einem Schloss leben“) wird sich nicht mehr mit praktischen Kompromissen bescheiden, sie träumt den Sissi-Traum von Ruhm und Pracht und wahren Gefühlen recht unerschrocken, und natürlich wird sie bezahlen dafür. Sie wird „in die Lügen von Clemens immer Vertrauen“ setzen und Misstrauen in die Worte des anderen, der ihr Freundschaft und Sicherheit gibt – und sie wird sterben, jung und schön und einsam.

Wie frivol und spöttisch Simone Meier gleich zu Beginn dieses romantische Motiv präsentiert! „O ja, sterben!“, denkt Lou, weil Clemens sie verlassen hat, sterben wie das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in dem Märchen von Hans Christian Andersen, das mit leuchtenden Augen und lächelndem Mund erfroren ist. Oder sein Herz in Briefen ausschütten wie Werther und natürlich wiederum jung sterben wie er; oder in Worpswede mit Rilke vom Sternenfall dichten und „ein Werk schaffen“: Wie Simone Meier die großen und tödlichen Gefühle (inklusive eines ordentlichen Schusses Geniekult) rehabilitiert und dabei ganz unschuldig tut, als hätte sie diese lediglich der Literaturgeschichte entliehen, das erstaunt nun doch. Manchmal scheint es gar, als hätte die Autorin die Wiedergeburt der Romantik aus dem Geist der Postmoderne im Sinn. Doch dann sitzt ihre Lou bloß wieder neben Clemens oder Michael oder Helena, und sie reden übers Heiraten und warum das schön wäre und gerade nicht geht.

Aus einem Standardthema hat Meier ein bittersüßes Märchen gemacht, in dem Sissi und die kleine Meerjungfrau mit Rilke-Motiven und den Lifestyle-Fabeln unserer Magazine eine Melange eingehen. Und während sie eine Brücke zwischen Jahrtausendwende und Fin de Siècle schlägt, entrückt sie nicht nur Lou mit ihrem Faible für Schlösser und Gräber, sondern auch ihren Roman einer Realität, die doch nur immer neue konventionelle Geschichten gebiert.

ANGELIKA OHLAND

Simone Meier: „Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2000, 232 Seiten, 34,90 DM