Das Filet einfach rausschneiden

Oberflächensezierungen im Schanzenviertel: „Das Buch zur Schanze mit Musik“  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Zuggeräusche gibt es jede Menge auf der CD, die dem einzigen bisher erhältlichen Buch über das Schanzenviertel beiliegt. Seit Montag dieser Woche liegt die Kombipackung an einschlägigen Orten des Viertels zum Verkauf aus. In Buch und CD stecken fünf Jahre unbezahlte Arbeit von um die 50 Machern und Macherinnen, unter die Leute gebracht werden sie im Eigenvertrieb. „Endlich etwas entgegensetzen“ wollten die HerausgeberInnen der Berichterstattung in der Presse, die „recht einseitig“ drauflos geschrieben habe, wie es der politische Zeitgeist gerade vorgegeben habe. Der Untertitel lautet daher sinnigerweise „Ein Stück Hamburg entdecken“. Mit Geschichten, Comics, Aktuellem, His-torischem und Musik will der farbige Band eine Art alternative Stadtteilführung sein.

Doch wie die Presse als Ganzes existiert die Schanze als Stadtteil nur in der Imagination. Über drei Bezirke verteilt sich die Gegend, die von den einen Schanzenviertel genannt wird, um ein No-go-area abzuzirkeln – von den anderen dagegen wird sie so geheißen, um ein einzigartiges Filetstück Hamburgs zu bezeichnen, in dem sich Urbanität in ihrer ganzen Freizügigkeit kristallisiert. Wo sich unterschiedliche Deutungen um ein Stück Stadt derartig bekämpfen, sind Mythen und Klischees selten weit. – Diese Art von Kritik allerdings, das stellte René Martens kürzlich fest, werde mittlerweile so oft geäußert, dass sie selbst schon zum Klischee geworden sei.

Nachzulesen ist das in der Einleitung zu seinem gemeinsam mit dem Fotografen Günter Zint vorgelegten Buch über St. Pauli, Kiez Kult Alltag. An jener Stelle zeugt das an sich richtige Argument aber nur von einer beispiellosen Unentschiedenheit, so als habe Martens dem möglichen Vorwurf seinem Buch gegenüber schon vorwegnehmend begegnen wollen. Denn auch wenn Kiez Kult Alltag viele gängige St. Pauli-Klischees demontiert, lässt es einige unangetastet. So besingt Martens in dem Beitrag „Zehn Mark die Stunde sind nicht drin“ die phänomenale Dichte an Plattenläden im Norden St. Paulis, den Einfallsreichtum und den Idealismus der Betreiber. Und er beschwört damit ein weiteres Mal die Konzentration interessanter Kultur im Viertel als Ausdruck von purer Subjektivität – der vielleicht am weitesten verbreitete Mythos, sei es über St. Pauli, sei es über das Schanzenviertel. Ebenso soll es der im Viertel vertretene, autonom geprägte Lebensstil selbst gewesen sein, der die nun von vielen Autonomen befehdeten MedienarbeiterInnen und WerberInnen dorthin gelockt habe.

Doch weder die jungen Firmen noch die Plattenläden und auch nicht die vielen anderen Einzelhandelsgeschäfte, die es wie fast nirgends sonst in den besagten Teilen der Stadt gibt, haben sich allein des Klimas wegen dort niedergelassen. Was die Eröffnung eines kleinen Ladens, eines Cafés oder einer jungen Agentur zuerst möglich macht, sind die immer noch vergleichsweise niedrigen Mieten. Und die sind nicht deshalb niedrig, weil das Viertel vielen als dreckig und von Drogenabhängigen bedroht gilt, sondern weil es lange Zeit – wohlgemerkt immer im Vergleich zu anderen Stadtteilen – nicht zu größeren Konzentrationen im Immobilienbesitz gekommen ist.

In ihrem Auftaktbeitrag vermeldet die Schanzenbuch-Mitherausgeberin Katja Senjor prominente Gründe für das bevorzugte Wohnen im Quartiert inklusive einer beachtenswerten Wir-Konstruktion: „Weil die gegenseitige Toleranz hier im Viertel sprichwörtlich ist“ und „weil wir hier leben wie auf dem Dorf (nur etwas toleranter miteinander umgehen)“. Von überwunden geglaubten weniger friedlichen Zeiten berichtet der größte Teil der Beiträge wie „Bombennächte“, „Gegen das Vergessen“, „Die Rote Flora“, „Der Lord von Barmbek“ über den Räuber Adolf Petersen, der 1920 die Post in der Susannenstraße um 335.000 Mark erleichterte, „Die RAF von nebenan“ oder „Die Höllenengel“ über die Hell's Angels in den 80er Jahren. Beinahe nichts dagegen ist dort über Konflikte zu lesen, die bis in die jüngste Zeit das harmonische Bild stören.

Einer der acht Viertelbewohner, die sich in dem Band quasi exemplarisch vorstellen dürfen, ist der Besitzer vom Barprojekt 1 und des inzwischen von vielen süffisant Bar ohne Scheiben genannten Cafés an der Ecke Schulterblatt/Susannenstraße. Und ausgerechnet er, dessen rassis-tische Äußerungen über die vorgeblich dealenden Schwarzen vor seinem Laden mehrfach zu Steinwürfen auf besagtes Café führten, beschwört ein weiteres Mal den „Traumstandort“: die Leute in der Schanze seien „irgendwie anders, im Kopf freier“. Die eigenen Feindseligkeiten verschwinden immer noch am besten unter dem Gerede von Toleranz.

Die CD dagegen ist von Romantizismen gänzlich frei. Zusammengestellt wurden die 18 Aufnahmen aus der Nachbarschaft von Jens Förster (88, der Verein für Kunst und Kultur im Ernie's) und Joachim „Hasy“ Johannsen (Hörbar e.V.). Zwar wurde für die CD offenbar in der Schanze gesampelt, was das Zeug hält, ansonsten aber ist dort einfach avantgardig angehauchte Musik zwischen Krach, NDW und Lounge vertreten, angenehm unprätenziös.

Das Buch zur Schanze mit Musik, Hamburg 2000, 86 S., mit CD, zus. 35 Mark; St. Pauli. Kiez Kult Alltag, Verlag die Hanse, Hamburg 2000, 176 S., 39,80 Mark