Homer goes Hillbilly

Religiöse Fanatiker, korrupte Politiker und griechische Sagengestalten im Amerika der Dreißiger: In „O Brother, Where Art Thou?“ mischen die Coen-Brüder das Repertoire der Südstaatenmythen auf

von ANDREAS BUSCHE

Fast hätte die Soggy Bottom Boys im neuen Coen-Film dasselbe Schicksal ereilt, wie einst Robert Johnson, den Urvater des Delta Blues. In einem mobilen Aufnahmestudio der unzähligen Talentscouts, die zur damaligen Zeit von den großen amerikanischen Plattenfirmen durch die Südstaaten geschickt wurden, um nach den kommenden Stars der „Old Timey Music“ Ausschau zu halten, hatte Johnson 1936 zwei Sets eingespielt und war von dannen gezogen, bevor der Aufnahmeleiter das Genie des jungen Schwarzen erkannte. Als die Plattenfirma Johnson ein Jahr später endlich aufgespürt hatte, war es bereits zu spät, ein gehörnter Ehemann hatte ihn mit Strychnin vergiftet. Später rankten sich viele Legenden um den verlorenen Gitarrenvirtuosen, zum Beispiel die Vermutung, er hätte seine Seele an den Teufel verkauft, als Gegenleistung für seine flinken Finger, die eine für normale Menschen abnorme Länge aufwiesen.

Robert Johnson hat natürlich ebenfalls seine Rolle in „O Brother, Where Art Thou?“, dem neuen, ultimativen Mythen-Kaleidoskop der Coen-Brüder. Bei ihnen heißt er schlicht Tommy Johnson und wird nach dem folgenschweren Deal als schattenloser Gitarrenhexer von den übrigen Soggy Bottom Boys (George Clooney, John Turturro, Tim Blake Nelson) an einer dreckigen Straßenkreuzung im amerikanischen Nirgendwo aufgelesen. Der Beginn einer Odyssee. Der Odyssee! Die Coen-Brüder sind angekommen im amerikanischen Süden, dem Niemandsland, das von den Nordstaaten aus betrachtet auch zur Zeit der Depression immer noch wie ein bizarres Fantasia anmutet, das man nie richtig verstehen wird. Fremdartig wirkt diese Folklore im hintersten Amerika, wo es so trocken ist, dass es selbst in der Agrarkultur gerade mal für Baumwolle reicht: eine degenerierte Hillbilly-Kultur mit hinterwäldlerischen Bluegrass-Weisheiten (und den üblichen Inzestanspielungen), der Ku Klux Klan, öffentliche Lynchings, American Primitive Folk, wahnhafte Religionsgemeinschaften, mangelndes Demokratieverständnis etc.

George Clooney nennt es die Zeit vor der Vernunft („wie in Frankreich“), und es bedarf erst einer riesigen Flutwelle von – mindestens – biblischen Ausmaßen, diese Ära des Unverstands hinwegzufegen. Aber auch Clooneys Figur des Everett Ulysses McGill ist nur ein Einfaltspinsel. Dessen bedarf es allerdings für solch ein komplexes Mythenspiel, wie es die Coens in „O Brother, Where Art Thou?“ aufziehen. Ulysses, Delmar und Pete, flüchtige Strafgefangene einer Gefängnisfarm (wieder eines dieser überdeterminierten Südstaatenbilder), stehen in einer direkten Ahnenreihe mit Forrest Gump. An ihrer Idiotie und Einfachheit lassen sich die Mechanismen der Mythenbildung und -rekonstruktion vortrefflich demonstrieren.

Joel und Ethan Coen schicken die drei Kettensträflinge durch eine perfekte Simulation des Mississippis der Dreißigerjahre, regeneriert aus einem umfassenden Repertoire aus Südstaatenmythen und -ikonografien, so wasserdicht und kohärent miteinander verflochten, dass aus ihnen eine irreversible Hyperrealität erwächst: das Coen-Amerika der Dreißiger, echter als echt und somit brillant herbeigedichtet (bis in die nachdigitalisierte Farbgebung der Bilder). Dazu der Coen-typische Verfremdungs-Kniff: Über die mythische Verschränkung mit dem Epos schlechthin, Homers Odyssee, beschwören sie Zeichen-aufgeladene Rückkoppelungseffekte herauf, die nur über die Unreflektiertheit der Protagonisten gelingen.

Aus diesem Grund kann das Roadmovie der Coen-Brüder auch nie im Sujet des klassischen Musicals aufgehen: die Verfremdungseffekte der Gesangs- und Tanzeinlagen, mit denen das Musical die Konstruktion der Filmbühne sichtbar macht, können in „O Brother, Where Art Thou?“ nicht funktionieren, weil der Film selbst ein einziger V-Effekt ist. Die Musikeinlagen (das Anrufen der Musen in einer großartigen Eröffnungssequenz mit Spirituals singenden Strafarbeitern, der Gesang der Sirenen, die ZZ-Top-mäßige Showeinlage der Soggy Bottom Boys etc.) fügen sich nahtlos in die Geschichte ein.

Gleichzeitig statuieren die Coens auf der Handlungsebene ein Exempel für vorbildliche Stringenz und inhaltliche Verknappung. Die Rückführung Ulysses’ und seiner Begleiter in den Schoß der Heimat und die Arme seiner harrenden Frau orientiert sich an den groben Eckpfeilern von Homers Odyssee, die die historischen Umstände in sich aufnimmt: Die Armut der Depressionsära, die Familienmitglieder zu Verrätern macht, Rassismus, das beginnende Zeitalter der Massenkommunikation (Radio) und natürlich Pop & Politics. Die Entstehung der Plattenindustrie, die in den Südstaaten nicht zuletzt auf der Armut der musizierenden Hillbillies gründete, und ein korrupter Politiker, der mit einfältigen Countrysongs auf Stimmenfang geht, geben den narrativen Rahmen der Irrfahrt vor.

Wenn am Ende schließlich die Soggy Bottom Boys vom Gouverneur vom Mississippi persönlich begnadigt worden sind und als seine persönlichen Berater doch noch ihren verdienten Erfolg feiern können, Ulysses seine Penelope bzw. Penny in die Arme schließen kann und der geborstene Staudamm gerade noch in letzter Sekunde der Vernunft die Bahn gebrochen hat, muss man sich allerdings doch einmal kurz schütteln – oder kneifen – und fragen, ob das denn jetzt alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Joel und Ethan Coen haben natürlich auch darauf eine Antwort parat: „Wer sucht schon nach Logik in den Kammern eines menschlichen Herzens?“

„O Brother, Where Art Thou?“. Regie: Joel und Ethan Coen. Mit George Clooney, John Turturro, Tim Blake Nelson, John Goodman, Holly Hunter u. a., USA 2000, 107 Min.