Der Einmarsch

Sehen so die Russen aus? Nach ihrer Wahl zur Bürgermeisterin marschierte Bärbel Grygier gestern mit den Genossen Zimmer, Pau und Bartsch über die Oberbaumbrücke. Kreuzberg fiel kampflos an die PDS und alle fragen: Wie konnte das geschehen?

von UWE RADA

Die Schlacht ist geschlagen. Unter großer Anteilnahme der demokratischen Öffentlichkeit und flankiert von einem wahren Feuerwerk an politischen Reaktionen, ist die PDS gestern in Kreuzberg einmarschiert. Für die verkehrstechnischen Voraussetzungen hat die Partei bereits 1993 gesorgt, als sie sich mit Nachdruck (und gegen den Willen der Kreuzberger) für die Öffnung der Oberbaumbrücke eingesetzt hat. So strategisch können Kommunisten denken.

„Der historische Sündenfall ist vollzogen“ (CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky)

Sehen so die Russen aus, vor deren Invasion uns Klaus Landowsky immer gewarnt hat? Blond, elegant, eloquent?

Bärbel Grygier, am Vorabend mit 37 von 66 Stimmen zur ersten PDS-Bürgermeisterin mit Geltungsbereich im ehemaligen Westsektor der Stadt gewählt, schlendert eher als dass sie marschiert. PDS-Noblesse auch im Schlepptau - mit Gabi Zimmer, der neuen PDS-Bundesvorsitzenden, und Dietmar „Osterwelle“ Bartsch, im dezent gestreiften Hemd und Trendcoach. Mal Hand aufs Herz. Sieht Landowsky mit seiner Rolex-Uhr da nicht aus wie ein Oldie Mix des Berliner Rundfunks („Wir haben die Hits der 60er und 70er“), eine Westberliner Reminiszenz an Fluchthilfe, Antikommunismus und Stuttgarter Platz?

So sehr am Boden war die Frontstadt-Christdemokratie noch nie wie am roten Donnerstag, dem Tag des historischen Einmarsches. Auch der Umstand, dass wenigstens Petra Pau, die PDS-Landesvorsitzende, die Neue Mitte im Kleiderschrank ließ, mag Landowsky nicht wirklich getröstet haben.

„Die SPD macht die extreme Linke hoffähig“ (CSU-Bundestagsfraktionschef Alois Glück)

Noch einige Meter bis zur Brückenmitte. Bärbel Grygier schwenkt die PDS-Fahne, die ihr ein sichtlich bewegter Christian Specht überreicht hat. Die Fotografen lauern, auf der Brücke wechselt eine junge Autofahrerin die Reifen. Kein Genosse hilft. Vielmehr sind alle Augen starr auf den Westen gerichtet, der hier der Süden ist. Doch da ist keiner. Kein Kreuzberger, der die neue Rathausmacht empfinge, nicht einmal die Spaßguerilla-Truppe KPD/RZ wartet mit einer Kiste geschälter Gurken in der Hand. Kreuzberg fällt der PDS kampflos in die Hände.

„Nein zu einem Volksfront-Bezirksamt“ (Junge Union)

Noch am Vorabend hatte es anders ausgesehen. Beinahe flehentlich wandte sich der CDU-Bezirksverordnete Dieter Dummin an die Abgeordneten aus Friedrichshain und Kreuzberg, das rot-rot-grüne Bündnis und die Wahl einer PDS-Bürgermeisterin zu verhindern. „Kreuzberg, hört die Signale!“ appellierte Dummin.

Doch die Völker beider Seiten hörten sie nicht. Die Linksfront, durch den Handtuchwurf des ursprünglichen Bürgermeisterkandidaten Dieter Hildebrandt fast noch einmal gefährdet, stand. Dummin blieb nichts anderes übrig, als einen Kranz am Rednerpult niederzulegen. Die Aufschrift: „Heute wird die Demokratie in Friedrichshain-Kreuzberg zu Grabe getragen“. Ein Akt der Verzweiflung auch die Reaktion der FDP. Die will nun retten, was zu retten ist und wenigstens den Fusionsbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf „Weststadt“ nennen. Offenbar ist das neue Jahrhundert nicht nur das der Frauen, sondern vor allem das Ende der Westberliner Männer.

„Genossen, Ihr seid nicht mehr die Partei der Kreuzberger Mitte, Ihr seid auf dem besten Wege humorlose Hippies zu werden.“ (offener Brief an die KPD/RZ)

Sie haben versagt, das ist schlimm. Die Kreuzberger Patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum („Nachtflugverbot für Pollen“ - „Rauchverbot in Einbahnstraßen“), von 4,9 Prozent der Kreuzberger Wähler in die BVV geschickt, um eine feindliche Übernahme durch die Zone zu verhindern, haben der Wahl Grygiers tatenlos zugesehen. „Autonome Kapitulatoren“ hätte das im Sprachgebrauch von „Klasse gegen Klasse“ früher geheißen.

Warum haben sie das getan? Warum nur? Noch im Sommer fand die bereits Tradition gewordene Schlacht auf der Oberbaumbrücke statt. Wieder einmal kämpften Kreuzberger und Friedrichshainer Separatisten mit Obst, Gemüse und anderen nicht mehr ganz frischen Lebensmitteln gegen die Fusion. Ob nun die „Kreuzberger Landwehr in Gründung“ oder die Bewegung „Groß-Friedrichshain“ obsiegte, darüber streiten sich die Geister. Doch nun: der Einmarsch, Kreuzberg unter der roten Fahne, keine Gegenwehr. Bis ins Hinterzimmer eines Multikulti-Imbisses hat sich ein Gründungsmitglied der KPD/RZ zurückgezogen, um sich die Schmach zu ersparen. Sein einziger Trost: „Bärbel Grygier ist seit drei Jahren Kreuzbergerin.“ Kommentar des offenen Brief-Verfassers: „Wer verrät uns schneller? Die KPD/RZ/ALer!“

„Wenn eine große Volkspartei die politische Mitte verläßt, ist ein Bindungsverlust im bügerlichen Lager die Folge.“ (Ingo Schmitt, CDU-Generalsekretär)

Es sei schwierig gewesen, die PDS als politischen Partner zu akzeptieren, sagte noch im Vorfeld der PDS-Machtübernahme der SPD-Kreisvorsitzende Stefan Zackenfels. „Es war aber erstaunlich, wie groß die inhaltliche Übereinstimmung ist“. Woher der plötzliche Sinneswandel?

In der Tiefe des Kreuzberger Raums angekommen, blickt Bärbel Grygier über die Spree. Als promovierte Psychologin weiß sie am besten, wie man Bindungsverlusten begegnet. Kommunisten denken schließlich nicht nur, sie fühlen auch strategisch. Deshalb wissen sie: Sozialdemokraten überzeugt man am besten, trifft man sie mitten ins Herz. Wie sie das gemacht hat? Bärbel Grygier hält ein Schild hoch, auf dem sich ein junges Paar küsst. Darunter ein alter Wahlkampfslogan der PDS: „Das erste Mal.“