Das soziale Netz

Überall in Berlin sind Gruppen, Kollektive am Werk, die weitgehend ohne Förderung die kulturelle Entwicklung vorantreiben. Kultur dient als soziales Bindemittel und füllt manchmal auch den Magen

von CLAUDIA WAHJUDI

Hopp, hopp, sofort aufs Konzert. So oder so ähnlich lautete die Mail, die gerade kam und versehentlich auf den Datenmüll flog. Wer spielt und wo? Egal. In der Digitalpost stecken zwei weitere Hinweise darauf, was sich heute Abend an Musik und Vorträgen goutieren ließe, sowie etliche Tipps fürs Wochenende, alles in kleinen, feinen halböffentlichen Kreisen. Anschließendes Socializing garantiert. Freunde und Bekannte haben die gleichen Mails erhalten, und jetzt fragen sie reihum: Gehst du hin? Frank und Patrick, Ulla und Katrin, wer auch immer, kommen bestimmt auch . . . Außerdem könnte sich ja an diesem Abend manches Projekt ergeben; dann wäre man in der nächsten Runde nicht Rezipient, sondern Produzent.

Die Netzwerke funktionieren und materialisieren sich in der ganzen Berliner Innenstadt. Heute die B-books-Party in der Cuvrystraße, nächsten Mittwoch Karaoke in der Flittchenbar, übernächsten Mittwoch wieder Mikro-Lounge; im September waren es der Asahi Art Club in der Bundespressekonferenz und ein Filmabend mit Park Fiction; letztens eine Radio-Musikaktion auf dem Alex, demnächst ein Internet-Seminar (inklusive Frühstück). Überall sind Gruppen, Zusammenschlüsse, Kollektive am Werk, die seit einem Jahrzehnt, weitgehend ohne öffentliche Förderung, die Entwicklungen in Musik, Kunst, Literatur und Netzkultur vorantreiben – und so nebenbei das Image der Stadt, die ihnen nichts zahlt, mitgeprägt haben. Möglich war das, weil diese Zusammenschlüsse sich nach einem Prinzip fanden, mit dem sich jetzt die Start-up-Szene hypet: Freunde sollt ihr sein, Ideen habt ihr sowieso, und mit wenig Geld, aber viel Arbeit in flexiblen Teams wird aus diesen Ideen Wirklichkeit. Nur dass in der freien Kultur noch nie Aktiengewinne gewunken haben, Verschuldung jedoch selbstverständlich möglich ist.

Ganz ohne Entlohnung geht es auch im Kultursektor nicht zu. Hier gibt es die Infrastruktur, die so genannte Plattform, die es erlaubt, Inhalte und Ästhetiken zu erproben, ohne sofort unter Verwertungsdruck zu stehen. Hier warten Nischen abseits von Mainstream und Diskurshierarchien und trotzdem jede Menge professionelle Kontakte. Vielleicht entpuppt sich die Netzarbeit des Einzelnen eines Tages als nützlicher Flicken in seiner Patchworkbiografie. Und nicht zuletzt gibt es noch mehr Freunde, allerlei Hilfestellung und manchmal auch ein warmes Essen. „Komm an den Ofen, komm an den Ofen“, sangen die Musikerfreunde der Galerie berlintokyo, „denn am Ofen ist es heiß, es gibt Kuchen, es gibt Reis . . .“ Oder Bier, wenn der DJ nach dem Vortrag, nach dem Video auflegt. Man tauscht Telefonnummern und Flyer aus, umarmt alte Freunde. Zeitweise kochten Künstler sogar für ihre Gäste. Während alle von Kultur als Standortfaktor sprechen, weil nur ökonomisch Verwertbares eine Existenzberechtigung zu haben scheint, dient Kultur auch als soziales Bindemittel.

Wenn schon sonst nichts bindet. Was denn ein Betriebsrat so mache, will die Designerin wissen, die noch nie in einer Firma mit Betriebsrat gejobbt hat. Der Fotograf besitzt ein SPD-Parteibuch aus alten Zeiten, war aber seit Jahren auf keiner Ortsversammlung. Zehn bis 50 Mark zahle sie im Monat für Rente ein, sagt eine Musikerin, das wird wohl nicht reichen. Aber dass ihre Tochter sie einmal unterstützen werde, und da lacht sie, das glaubt sie nicht. Wenn der öffentliche Raum immer stärker privatisiert wird, meint die Künstlerin, die im öffentlichen Raum arbeitet, müsse sie sich neue Orte suchen, eventuell den digitalen Raum. Künstler seien heute „Selbstunternehmer“, schreibt der Nürnberger Kulturwissenschaftler Thomas Röbke, sowie ökonomisch und sozial den neuen, outgesourcten Arbeitenden der immateriellen Produktion gleich gestellt.

Wenn wir uns selbst managen, jedoch mit Massenevents um Aufmerksamkeit konkurrieren müssen, sagt ein Künstler aus Berlin, sei es sinnvoll, sich zusammenzuschließen und Arbeiten wie PR und Buchführung aufzuteilen. „Get together“, jubelte die Kunsthalle Wien letzten Winter im Titel ihrer Ausstellung zu „Kunst als Teamwork“. Und konstatierte: Anders als in den Atelierwerkstätten und Brüderschaften der Vormoderne und in den ideologisch geprägten Künstlergruppen des letzten Jahrhunderts kämen heutige Zusammenschlüsse ohne Chef und Style-Guide, ohne Manifest und Ideologien aus. Im Katalog, der den emanzipatorisch-spielerischen Geist von Dada und Fluxus, ein paar Seiten weiter jedoch die ergebnisorientierte Effizienz von Teams aus der Hochenergiephysik beschwört, schreibt der ehemalige Volleyballtrainer Julio Velasco: „Der Wunsch, ‚in einer Mannschaft zu spielen‘, ist auch der Wunsch, nicht allein zu sein, nicht gegen alle kämpfen zu müssen, sondern, wenn schon, ‚mit ein paar anderen gegen andere‘. . .“. Gäbe es im Volleyball Tore, Velasco hätte eins geschossen.

Denn so sehr der Ofen wärmt – es geht auch um Konkurrenz. Darum, den kulturellen Sektor gegen andere Sektoren zu behaupten, etwa gegen die Omnipräsenz der Ökonomie. Aber auch darum, sich auf dem eigenen Feld zu bewähren und kulturelles Kapital zu sammeln. Zehn unbezahlte Vorträge machen vielleicht irgendwann eine befristete Projektassistenz, die wiederum weitere fünf unbezahlte Vorträge ermöglicht. Die Strategien der Konkurrenten sind heute jedoch subtiler als noch vor sieben, acht Jahren, als sich gerade politisch aktive Kultur-Netzwerke durch rigorose Abgrenzungsrituale auszeichneten. Vorbei. Je prekärer die Lebenssituation, je mehr Wirtschaft und je weniger Politik, je größer das diffuse Unbehagen über die Partikularisierung der Gesellschaft, desto sanfter der Umgangston. Niemand soll, niemand will durch die Maschen fallen. Allein machen sie dich ein. Und wer sonst, wenn nicht dein Netzwerk, updatet dich und deinen Computer für ein schnödes Freibier, damit du all die Mails auch künftig lesen kannst.

CLAUDIA WAHJUDI ist Redakteurin bei Zitty und Autorin des Buchs „Metroloops. Berliner Kulturentwürfe“ (Berlin, 1999).