Denkschrift für Rainer Sch.

BARBARA DRIBBUSCH über den Alltag einer Sozialjournalistin

Seitdem auch die Ärzte klagen, wird es eng. „In diesen schweren Stunden der Angst und Verzweiflung ist brüderliche, kollegiale Solidarität gegenüber den Röntgenkollegen dringend notwendig“, bittet Dr. Erhard Th. aus Berlin die taz. Den Berliner Röntgenärzten geht es schlecht. Schlechter als den Psychotherapeuten? Als dem Psychologen Peter M. etwa, der vorm „Kahlschlag“ in der psychotherapeutischen Versorgung warnt, der skandalöserweise von der Presse („auch von euch als taz!!“) totgeschwiegen wird? Und wie schlecht geht es den RentnerInnen, für die eine IG Metall ein „solidarisches Reformkonzept“ fordert, durch das die Altersruhegelder in den nächsten Jahren nicht gekürzt werden sollen? Wie groß muss das in die Zeitung?

Solidarität ist ein hart umkämpftes Gut mit einem neuen Verteilungsproblem: Immer mehr wollen was abhaben, doch zu verteilen gibt es immer weniger. Das Publikum ist kritisch: Wer Solidarität will, dem muss es erstens erkennbar schlecht gehen. Der muss zweitens erkennbar unschuldig an seiner Lage sein und muss drittens doch noch einer von uns sein. Der gemeinhin beneidete Berufsstand der Ärzte warf da schon einige Probleme auf. Aber auch das Gejammer über die hohen Kraftstoffpreise sorgte für kritische Fragen: Sind Lkw-Unternehmer wirklich so arm dran? Und sind die Pendler, die im Mittelklassewagen jeden Tag vom Eigenheim in die Metropole fahren, nicht auch ein bisschen selbst schuld daran, dass die Benzinkosten das Haushaltsbudget auffressen? Könnten doch eigentlich Fahrgemeinschaften bilden!

Solidarität gilt niemals den Allerschwächsten. Leider. Denn die sind entweder sehr allein oder haben die immergleichen Probleme ohne Neuigkeitswert. Da gibt es zum Beispiel die paar Arbeiterinnen des Geflügelfleischgroßhändlers Frikifrisch in Essen, die derzeit Mahnwache stehen, weil sie ihre Jobs verlieren. Das kommt höchstens in die Gewerkschaftszeitung. Schlechte Chancen hat auch Rainer Sch. aus Karlsruhe. Niemand kann so wenig auf Mitgefühl rechnen wie die Verrückten, was ja die Tragik des Wahnsinns ist. Rainer Sch. titelt sein Protestschreiben: „Der psychisch Kranke als Sklave des 3. Arbeitsmarktes“. „ Ihr erinnert euch“, schreibt Sch., „ich wurde im Oktober eingefangen, als ich aus lauter Verzweiflung über diesen Ausbeuterstaat diese großen grünen Müllcontainer anzündete.“ Danach musste Reinhard Sch. in der Irrenanstalt „Idiotenarbeit“ leisten, für 70 Mark im Monat. Für Irre gibt es keine ÖTV.

Auch Reinhard S. aus München hat es schwer. Wahrscheinlich hat er seine Aktenordner schon vergeblich an andere Redaktionen geschickt, und jetzt: Sie als taz! Sie müsste das doch interessieren! „Rechtsbeugung und Prozessbetrug unter Beteiligung zahlreicher Richter am Arbeitsgericht und am Landesarbeitsgericht“. Das Paket mit den Ordnern wiegt acht Kilo.

Helene P. aus Hergatz wendet sich nur per Leichtbrief mit einem „aktuellen Thema“ an die taz. Mütter, die nicht gearbeitet haben, bekommen ihre Rentenanteile aus der Kindererziehung erst nach dem 65. Lebensjahr, schreibt sie. Ehemals erwerbstätige Mütter könnten hingegen schon mit 60 Jahren in Rente gehen und ihre Anteile aus der Kindererziehung ab dann kassieren. Das sei doch eine große Ungerechtigkeit. Stimmt schon. Bloß wo und wie können wir das irgendwo mal erwähnen?