Solidarität ist nicht nett

Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis hat solidarisches Verhalten nichts mit Barmherzigkeit zu tun. Stattdessen geht es um gemeinsame Interessen und politische Vernunft

von BETTINA GAUS

Die Besucher waren meist nicht angekündigt, aber sie wurden dennoch erwartet. Wann immer ich von Nairobi aus in die Bundesrepublik gereist bin, gaben sich unmittelbar zuvor Auslandsdeutsche bei mir die Klinke in die Hand. Alle hatten Briefe dabei, frankiert mit deutschen Marken: „Die wirfst du dann gleich in Frankfurt ein, ja? Aber vergiss es nicht, es ist wichtig!“ Manchmal gab mir jemand ein Rezept mit: „Kannst du mir die Medikamente mitbringen, wenn du zurückkommst?“ Gute Bekannte konnten auch um weniger notwendige Mitbringsel bitten: Vanillezucker und Schokoladenosterhasen. Enge Freunde durften sogar Päckchen mitgeben – ziemlich lästig – oder einen bestimmten Videofilm bestellen. Noch lästiger. Aber ich würde später im Jahr selbst einen Nikolaus brauchen.

Solidarität hat viele Gesichter, und die meisten sehen keineswegs heroisch aus. Im Allgemeinen handelt es sich um eine Form der Kooperation, die auf Gegenseitigkeit beruht oder doch zumindest auf gemeinsamen Interessen. Der Duden übersetzt den Begriff mit Zusammengehörigkeitsgefühl, Gemeinsinn, Übereinstimmung. Von Barmherzigkeit ist nicht die Rede. Nicht einmal von Freundlichkeit.

Die Welt wäre schrecklich ohne Mitgefühl. Es ist bewundernswert und erfreulich, dass es Menschen gibt, die ihr Leben dem selbstlosen Dienst am Nächsten weihen, und in einer Gesellschaft ohne gute Taten möchte wohl niemand leben. Aber all das hat mit Solidarität nichts zu tun. Die Schülerin, die dem gehbehinderten Nachbarn die Einkäufe nach Hause trägt, ist nicht mit diesem solidarisch. Sondern einfach nett.

Sozialistische Regierungen haben den Begriff der Solidarität in der Vergangenheit emotional überfrachtet, und auch machtlose Bewegungen wie die Linke in der Bundesrepublik taten es ihnen gleich. An Gefühle, nicht an den Verstand wurde im Allgemeinen appelliert, wenn solidarisches Verhalten mit den Benachteiligten, den Entrechteten und den Ausgebeuteten an den Tag gelegt werden sollte. Dieses ritualisierte Pathos war überflüssig. Es gibt sehr nüchterne Gründe für die Solidarität mit all diesen Gruppen.

Diese Gründe zu analysieren ist erheblich mühsamer, als der Öffentlichkeit gemütvolle Sentenzen auf die Seele zu binden. Das zeigt sich gerade in diesen Wochen am Beispiel der tätlichen Angriffe auf Ausländer, auf Obdachlose und auf jüdische Einrichtungen. Der vom Kanzler geforderte „Aufstand der Anständigen“ wäre eine feine Sache, wenn es dazu kommen sollte. Aber sogar weniger anständige Leute haben allen Anlass, sich mit den Opfern von Rechtsextremisten zu solidarisieren.

Wenn Schläger bestimmen können, wer sich wo aufhalten darf, wird das Leben für alle unangenehmer. Ist die Spirale der Gewalt erst einmal in Gang gesetzt, dann kann bald auch die falsche Kleidung, der falsche Fußballklub oder das falsche Alter für eine potentielle Gefährdung ausreichen. Außerdem wird im Zusammenhang mit dem Abwehrkampf gegen rechts schon jetzt über die Einschränkung von Grundrechten nachgedacht. Manager klagen über nachteilige Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Es ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern es liegt im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung, dass dem rechten Terror ein Ende bereitet wird. Solidarität ist kein Hinweis auf einen guten Charakter, sondern ein Gebot der Vernunft.

Allzu große, gefühlsbetonte Worte in Zusammenhang mit diesem Begriff deuten keineswegs auf ein ebenso großes Engagement hin. Sie legen im Gegenteil den Verdacht nahe, dass die Vorkämpfer der Solidarität selbst der Botschaft misstrauen, von der sie andere überzeugen wollen. Wer glaubte wirklich an den früher gern zitierten Satz, dem zufolge keine Hälfte der Welt ohne die andere überleben könne? Dabei stimmt er. Schon allein aufgrund der inzwischen ziemlich freien Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen.

Mütter müssen untereinander nicht zur Solidarität ermahnt werden. Sie praktizieren sie. „Ich muss zum Zahnarzt. Nimmst du Anke mit zum Spielplatz?“ Selbstverständlich. Auch wenn Anke nervt. Übermorgen hat die Mutter von Tobias einen Termin, zu dem sie den Dreijährigen nicht mitnehmen will. Eine Hand wäscht die andere. In einem Land, in dem es bei weitem nicht genug Kindertagesstätten und Ganztagsschulen gibt, können sich viele Mütter und – seltener – auch Väter nur dann einen kleinen Freiraum erkämpfen, wenn sie sich miteinander solidarisch zeigen.

Wenn ganze Gruppen – wie die Auslandsdeutschen in Nairobi oder die Eltern von kleinen Kindern in der Bundesrepublik – unterschiedslos von objektiven Mängeln der Infrastuktur betroffen sind und Solidarität nur aus diesem Grund brauchen, dann hat das auf den Status des einzelnen Mitglieds dieser Gruppe keinen Einfluss. Wie aber sieht das in Fällen aus, in denen die Gruppenzugehörigkeit der jeweils Einzelnen weniger offenkundig ist? „Ich würde nie einer Gewerkschaft beitreten“, sagt ein erfolgreicher 34-jähriger Single. „Wenn ich mich bei meinem Arbeitgeber nicht selber mit meinen Forderungen durchsetzen kann, dann gehe ich.“

In einer Gesellschaft, die auf individuellen Erfolg fixiert ist und die Stärkung der so genannten Eigenverantwortung zur Ideologie erhoben hat, wird das Eingeständnis, auf Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen zu sein, häufig als Versagen gewertet. Fast jede Dienstleistung lässt sich in Deutschland mit Geld erkaufen. Warum die Kollegin um ihr Auto bitten? Es gibt doch Leihwagen. Und für andere Gelegenheiten Handwerker, Spediteure, Kreditvermittler. Die Zahl der persönlichen Gefälligkeiten, mit denen sich der Alltag bewältigen lässt, ist in einer Mangelgesellschaft ungleich höher als in einer Überflussgesellschaft. Das wirkt sich auch auf das politische Klima aus.

Als sentimentale Verklärung der Vergangenheit werden die gelegentlich von Ostdeutschen zu hörenden Klagen über die soziale Kälte im Westen kritisiert. Die größere Hilfsbereitschaft in der DDR sei doch nur darauf zurückzuführen gewesen, dass es so vieles nicht gegeben habe oder es mindestens nur schwer zu bekommen gewesen sei. Ja, und? Was beweist das? Doch allenfalls eines: dass sich die Bewohner eines reichen Landes schwerer damit tun, Solidarität einzufordern und zu praktizieren als andere. Sie haben weniger Übung. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis sind es aber eben nicht nur Minderheiten und Unterdrückte, die darunter zu leiden haben. Sondern alle. Irgendwann in ihrem Leben.