Die Zunft reagiert verschnupft

Nun müssen sich die Leverkusener fragen lassen, ob sie den Zustand Christoph Daums nicht bemerkt oder ob sie einfach nur weggesehen haben

aus Leverkusen KATRIN WEBER-KLÜVER

Draußen im Stadion gingen die letzten Lichter aus. Drinnen hinter den Panoramascheiben des Restaurants plauderten Spieler, Funktionäre und ihre Frauen im VIP-Bereich. In einer Ecke saß Rudi Völler und hörte sich freundlich an, was seine Tischnachbarn zu erzählen hatten. Fast hätte man meinen können, in der BayArena klinge ein ganz normaler Bundesligaspieltag aus, ein erfreulicher zumal, da Bayer 04 Leverkusen gerade Borussia Dortmund 2:0 besiegt hatte.

Aber dann betrat Reiner Calmund das Restaurant mit schleppenden Schritten und mit Augen, die tiefrot umrandet waren. Der Geschäftsführer von Bayer trug einen schwarzen Anzug, darunter einen schwarzen Pullover – wie für eine Beerdigung. Gestorben war niemand in Leverkusen, aber es war etwas auf dramatische Weise zu Ende gegangen. Keiner in Leverkusen war davon so mitgenommen wie Calmund. Gerade hatte er in einem Fernsehinterview gesagt: „Wir sind in Gedanken bei Christoph Daum.“ Und auch: „Es tut sehr weh.“ Er hatte geredet und geredet und geredet, als könne er das Unfassbare damit vertreiben.

Calmund selbst wusste es seit dem späten Freitagnachmittag, am Samstag hatte er es in einer improvisierten Pressekonferenz kurz nach 15 Uhr öffentlich gemacht: Der Drogentest an der von Christoph Daum am 9. Oktober abgegebenen Haarprobe hatte einen positiven Befund ergeben. Der Test, der belegen sollte, dass alle Gerüchte über den Drogenkonsum des designierten Bundestrainers pure Verleumdung seien, hatte genau das Gegenteil hervorgebracht.

Mit Mühe und am Ende den Tränen nahe gab Calmund am Samstag zu Protokoll, was sich in den letzten 24 Stunden ereignet hatte. Er selbst hatte das Analyseergebnis aus dem Institut für Rechtsmedizin der Universität Köln abgeholt und am späten Freitagabend im Hotel der BayArena seinem Freund Christoph Daum vorgelegt. Der habe mit Unglauben auf das Ergebnis reagiert. Calmund verlas die schriftliche Erklärung Daums, in der es unter anderem heißt: „Aufgrund der mir übermittelten Daten, die ich anzweifle und mit einer zweiten Probe widerlegen werde, sehe ich mich nicht mehr in der Lage, meine Tätigkeit bei Bayer Leverkusen fortzusetzen.“ Christoph Daum selbst flog laut Bild am Sonntag am Samstag von Frankfurt nach Miami.

Calmund sagte, Daum werde in Deutschland kein Traineramt mehr antreten. Und auch, dass wenn Daum selbst nicht zurückgetreten wäre, Bayer ihn entlassen hätte. Denn: „Wir können uns nicht vorstellen, dass einer, der Drogen nimmt, hier Trainer ist.“ Auch für den DFB war es nunmehr reine Formsache, den Handschlagvertrag mit Christoph Daum für hinfällig zu erklären. Von einer „großen menschlichen Enttäuschung“ sprach in Stuttgart der designierte DFB-Chef Gerhard Mayer-Vorfelder. Seine Begründung klang logisch: „Wenn er Bezug zu Drogen hat, hätte er wissen müssen, dass es positiv ausgeht.“

Von großem Mitgefühl für Daum zeugte das nicht, eher von Unverständnis, warum jemand etwas Illegales tut und es dann auch noch derart spektakulär publik werden lässt. Durchweg lassen sich die Äußerungen der Fußballfunktionäre in den letzten Wochen vor allem so deuten, dass ihnen der Tabubruch der Veröffentlichung schwer zu schaffen macht. Unverhohlen geben all die Koryphäen des Fußballzirkus von Beckenbauer bis Lattek zu, längst etwas gewusst oder geahnt zu haben.

Man kann das zynisch nennen. Denn offenbar hätte sich von den Männern in München, Leverkusen und Stuttgart niemand veranlasst gesehen, sich um Christoph Daum zu kümmern oder dem Wahrheitsgehalt der Gerüchte auf den Grund zu gehen, hätte der seine Linien bloß weiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezogen. Jetzt erst, wo öffentlich wird, dass der Drogenkonsum Daums womöglich pathologisch ist, fallen allen mitfühlende Kommentare ein.

Niemand im Verein und ebenso wenig der Sponsor hätten Daum gedrängt, die Analyse machen zu lassen. Im Gegenteil, alle hätten ihm abgeraten, betonte Reiner Calmund. Daum aber habe darauf gedrängt, ebenso wie auf ein beschleunigtes Testverfahren. Aus vermeintlich gutem Grund, der durch den Befund jedoch ein absurder wurde. Daum wollte die Ergebnisse unbedingt in einer für gestern anberaumten Aussprache mit Uli Hoeneß vorlegen.

Der Umstand, dass Daum noch am Freitagabend offenbar davon ausging, die Ergebnisse würden zu seinen Gunsten sprechen, machten Calmunds Erschütterung perfekt. Im rechtsmedizinischen Institut haben die Experten ihm einen Begriff mitgegeben, um Daums Haltung und Handlungen verstehen zu können: „Realitätsverlust“.

Nun müssen sich die Leverkusener fragen lassen, ob sie diesen Zustand Daums tatsächlich nicht bemerkt oder ob sie einfach weggesehen haben. „Würden Sie erkennen, ob jemand, mit dem Sie oft zusammen sind, Drogen nimmt? Ich bilde mir nicht ein, dass ich so was sofort erkennen kann“, sagte Rudi Völler. Völler war noch in der Nacht zum Samstag von Reiner Calmund über das Testergebnis informiert worden. Und er hatte dem Geschäftsführer sofort zugesagt, bis auf weiteres bei Bayer einzuspringen. Rudi Völler ist nun der erste Teamchef, der in Personalunion die National- und eine Vereinsmannschaft betreut. Nach dem Spiel am Samstag war Völlers erster Kommentar ein Dank an die Fans. Die hatten den Trainer, der nicht mehr Trainer ist, vor und während des Spiels gefeiert wie nie zuvor in Daums vier Leverkusener Jahren. Es war eine pietätvolle Geste. Völler sagte, er habe sich gefreut, „dass alle den Christoph nicht vergessen haben“. Es war keine Absicht. Aber es klang wie ein Nachruf.