Neu im Theater: Sterben aus Freude

■ In der Oper der letzten beiden Jahrhunderte sind Frauen besiegt, verraten und verkauft. Bei Charles Gounods „Mireille“ ist das ein bisschen anders. Das Stadttheater Bremerhaven hat die Oper jetzt wiederentdeckt

Nun haben es die Bremerhavener mit ihrem Stadttheater bald geschafft: Am 25. Dezember kann das Große Haus am Theodor-Heuss-Platz nach eineinhalb Jahren Renovierung wieder bespielt werden. Es ist zu bewundern, mit welchen Ideen das Theater in der Zeit in einem verlassenen Schwimmbad, einer Basketballhalle, einer Kinohalle oder einer Bootshalle den künstlerischen Betrieb aufrechterhielt. In Bezug auf die Oper hatte das Theater den Einfall, in der Renovierungszeit mit konzertanten Aufführungen an Stücke zu erinnern, die weitgehend aus den Spielplänen verschwunden sind. Nach Vincenzo Bellinis den OpernfreundInnen nicht ganz unbekannten „I Puritani“ gab es diesmal eine wirkliche Rarität, vielleicht sogar eine deutsche Erstaufführung: „Mireille“ von Charles Gounod, der heute nur noch als der Komponist von „Margarete“ (Faust) und dem weltberühmten, trotzdem unsäglichen „Ave Maria“ (sing: a-haa-ve Ma-rii-haa) bekannt ist.

Nimmt man einmal die listigen Frauen in den Buffa-, aber auch Seria-Opern des 17. und 18. Jahrhunderts aus, so sind die Frauen in der Oper des 19., aber auch 20. Jahrhunderts besiegt, verraten und verkauft – sterben müssen sie (fast) alle, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Auch Charles Gounods „Mireille“ muss sterben, aber sie stirbt aus Freude – ein Novum unter den Todesmotiven.

Den politischen Aspekt der literarischen Vorlage – Frédéric Mistrals neuprovençalisches Versepos „Mirèio“ – lässt Gounod außen vor, er reduziert das Libretto auf die vergebliche Liebesgeschichte der reichen Mireille und des armen Vincent. Gounod war von der Provence mit ihren Bräuchen und ihrem Licht so fasziniert, dass er zur Zeit der Komposition zehn Wochen dort lebte. In der Oper spiegelt sich das neben den Spielorten „Saintes Maries de la Mer“, der sagenhaften Stadt „Les Beaux“ oder auch dem „Val d'Enfer“ vor allem durch Kompositionstechniken wieder: Tänze und Volksgesänge hat er als Motive benutzt.

„Ich war trunken vor Freude, die Motive flogen mir zu wie Schmetterlinge, und um sie zu fangen, brauchte ich lediglich den Arm auszustrecken“, schreibt er zur Zeit der Komposition 1864. Gounod verarbeitet provençalisches Volksliedgut wie den Tanz Farandole oder auch das alte „Chanson de Magali“, das Mireille und Vincent ergreifend singen. Ansonsten ist seine Musiksprache geprägt vom Aspekt der Deklamation, von der Wichtigkeit der Artikulation, die er immer wieder betonte.

Dass der Dirigent der Bremerhavener konzertanten Aufführung, der erste Kapellmeister Hartmut Brüsch, von der atmosphärischen und dramatischen Kraft der Partitur überzeugt ist, war mit jedem Takt klar. Er schaffte es zwar nicht durch-, aber weitgehend, die spezfisch französische „tragédie lyrique“ zu konturieren und zu widerlegen, was Richard Wagner und Oscar Bie über Gounod sagten: „oberflächliche Sentimentalität“ und „langsam geschlürfte Süßigkeiten“. Was allerdings angesichts der trockenen Akustik und der öden Atmosphäre in der Halle der Carl-Schurz-Kaserne schwer genug war. Immer wieder malt Gounod bestimmte Situationen mit Soloinstrumenten, besonders gern mit der hervorragenden Oboe. Alles in allem: eine bereichernde Ausgrabung.

Das lag freilich auch an den Sängerinnen, wobei ich diesmal das I nicht großschreiben muss. Denn die Sängerinnen waren mit Abstand so viel besser, dass das an dieser Stelle auch gesagt werden muss. Die Russin Milana Boutaeva – neu im Ensemble – in der Titelpartie wuchs im zweiten Teil, indem sie noch um einige Grade besser war, über sich hinaus. Eine charismatische warme Stimme, durchaus fähig, eine fehlende Szene vergessen zu machen. Auch Katarzyna Kuncio als leidenschaftlich beratende Freundin Taven beeindruckte durch Charakter und Stimmstärke. Für die männlichen Hauptrollen ergaben sich dieselben Probleme wie auch schon für „Puritani“, es waren auch dieselben Sänger: Benno Remling als Vater Mireilles ohne Kraft, ohne Charakter, rettet sich leicht knödelig durch den Abend. Nur wenig besser Oscar Quezada als Stierhüter Ourrias, der Mireille heiraten will: Es hätte auch irgendein Oratorium sein können, was er hier sang. Die Rolle des Vincent war bei Jorgen Talle gut aufgehoben, dessen hohem Tenor ein gerüttelt Maß an Anstregung auch anzuhören war. Viel berechtigter Beifall. Ute Schalz-Laurenze

Weitere Aufführungen: 24. und 26.10. um 20 Uhr, 1.11. um 20 Uhr sowie am 19. und 25.11. um 19.30 Uhr, Carl-Schurz-Kaserne; Karten unter Tel.: 0471/49 001