Milde Welt

Märchen aus dem Alltag: Das Grips-Musical „Melodys Ring“ ist wieder eine menschenfreundliche Typenrevue

Ein neues Grips-Stück sieht fast immer so aus wie die wirkungserprobten alten. Mit der „Linie 1“ fährt seit 1986 das alte Westberlin durch die ganze Welt, und seit 1997 kann man sich in „Cafe Mitte“ anschauen, wie die Kids einer lange getrennten Stadt zusammenkamen. Auch „Melodys Ring“, das neue Musical „für Menschen ab 13“, kommt wieder als Stationendrama daher.

Auf der Suche nach einem Jungen, der vermeintlich ihren Ring geklaut hat, fährt ein Mädchen mit der U-Bahn durch ganz Berlin. Die Neu-Berlinerin aus Zehlendorf weiß von der Mauer längst nichts mehr, für sie ist Berlin eine offene Stadt. Dass die Stadt nicht für alle offen ist, lernt Melo(dy), indem sie auf viele andere Neu- und Altberliner aus aller Herren Länder trifft.

Bei Grips ist die Berliner Welt immer voller Typen – jede Figur nicht nur ein netter Mensch, sondern (zu)gleich auch eine Pointe –, und die Stadt ein Laufsteg, auf dem die Menschen mit ihren Macken und Marotten liebevoll ausgestellt werden. Das Ensemble in Rüdiger Wandels schwungvoller Regie und Annette Reckendorfs Choreografie wirft sich mit offenbarer Spiellust in seine wechselnden Rollen: Ob verkniffene Wachtturm-Verkäuferin oder braver Motorradrocker, ob In-line-Skater mit Gummikrone, ob Pennerin oder Polizist – sie alle werden in ulkigen Posen vorgeführt. Das Ganze: ein Skurrilitätenkabinett, hinter dem, weil aus genauer Beobachtung entstanden, immer doch Menschen sichtbar werden.

Das Gleitmittel der Szenen ist die munter alle Stile zwischen Hip und Hop, Schlager und Jazzbeat überbrückende, insgesamt etwas brave Musik von Birger Heymann. Dabei setzen Komponist und Texter vor allem auf emotionale Wirkung der Songs und schrecken selbst vor schrecklich-schönen Schnulzen nicht zurück: „Ich bin bei dir auf all deinen Wegen“ singt Melo den bosnischen Jungen Mujo beim Happy End an, und der singt zurück „Mein Herz sagt mir leise: Ich gehör zu dir.“ Es gibt aber auch einen zupackenden Rap, den Mujo, vor der Abschiebung untergetauchter Bosnier (Falk Berghofer) mit seinem russlanddeutschen Freund Viktor (wunderbar: Rüdiger Klink) direkt ins Herz von Melo spricht und tanzt. „Von der Elbe bis zur Neiße, biste meistens nur’n Stück Scheiße ...“

Volker Ludwig hat einmal mehr mit milder Menschenliebe ein Märchen aus der Wirklichkeit geschrieben. Die beiden dumpfen, glatzköpfigen Fußballfans kommen dabei mehr als dramaturgisches Mittel daher. Während der in dritter Generation deutsche Berliner Siegfried Kowalski (herrlich knurrig ironisch: Dietrich Lehmann) sich mit seinen Vorurteilen gegen Ausländer auf Grips-typische Weise selbst widerlegt und -spricht.

Ein munteres, multikulturelles Völkchen trifft sich zum klamottigen Schluss auf dem Polizeirevier, um Mujo zu befreien und vor der Abschiebung zu bewahren. Selbst Melos nette, wenn auch oft „voll peinliche“ Mutter (Michaela Hanser) ist dabei, wenn mit Verkleidung und Verstellung der Palästinenser Hassan und der Türkberliner Murat (körpersprachlich und kabarettistisch brillant: Jörg Westphal) und all die anderen Berliner für Mujos Befreiung kämpfen, singen und tanzen – gegen solchen Einsatz kann sich keine schlimme Wirklichkeit behaupten. Mujo muss zwar nach Amerika zu seinem Onkel ausreisen, doch die Liebenden werden sich besuchen. Der Wunsch des Grips-Theater-Teams, wenigstens auf der Bühne die Welt heilen zu können, wirkt aber nie verlogen, sondern ist letztendlich immer „nur“ sympathisch menschenfreundlich. HARTMUT KRUG