Abriss ist kein Tabu mehr

Lange Zeit war die Platte in Berlin kein Thema für Abriss, sondern für Sanierung. Nun soll in Lichtenberg ein 21-stöckiger Plattenbau dem Firmensitz der dortigen Wohnungsbaugesellschaft zum Opfer fallen. Schwedt und Hoyerswerda lassen grüßen

von UWE RADA

Die Sache war gut vorbereitet. Um den Bezirksverordneten in Lichtenberg ihre neuesten Bauprojekte vorzustellen, lud die Wohnungsbaugesellschaft HoWoGe am Donnerstagabend die Ausschüsse Bauen/Wohnen sowie Stadtentwicklung/Verkehr zu einer Sondersitzung ein.

Ort des Geschehens war nicht das Lichtenberger Rathaus, sondern der Firmensitz der HoWoGe in der „Pyramide“, einem teilweise leerstehenden Büroturm an der Rhinstraße. Doch das Areal rund um das Lichtenberger Rathaus spielte an diesem Abend die entscheidende Rolle. Um unweit der Bezirksverwaltung an der Ecke Frankfurter Allee/Möllendorffstraße das 300 Millionen Mark teure Projekt „Rathausdreieck“ zu errichten, soll ein 21-stöckiger Plattenbaukomplex abgerissen werden. Allen Sanierungsanstrengungen der vergangenen zehn Jahre zum Trotz wäre damit der erste Abriss eines Plattenbaus in Berlin perfekt.

Signalwirkung Abriss

Der Signalwirkung eines solchen Vorhabens bewusst, versuchte Lichtenbergs Baustadtrat Andreas Geisel (SPD) gestern die Wogen zu glätten. „Entschieden ist noch gar nichts“, betonte Geisel und verwies auf ein Bebauungsplanverfahren, das demnächst eingeleitet werden solle. Derzeit würden verschiedene Bebauungsoptionen geprüft werden. Aber auch Geisel räumte ein, dass „eine dieser Optionen aus städtebaulichen Gründen den Abriss des besagten Hochhauses nach sich ziehen könnte.“

Plattenbau und Abriss: Bislang kannte man diese Meldungen nur von den Schrumpfungsregionen Ostdeutschlands, allen voran Hoyerswerda oder Schwedt, aber auch aus Guben, Wolfen oder Stendal. Nach der Abwicklung des Braunkohletagebaus in der Oberlausitz hat Hoyerswerda etwa 15.000 Einwohner verloren. Nun will die Kommune der Abwanderung mit dem Motto „Stadtvillen statt Platte“ begegnen.

Noch größer ist der Exodus in Schwedt, wo heute nur noch 39.000 der ehemals 55.000 Einwohner leben. Mit 700 bereits abgerissenen Plattenbauwohnungen, in Schwedt euphemistisch „Rückbau“ genannt, führt die ehemalige Industriestadt im Nordosten Brandenburgs auch die Hitliste der Abrisse in den Neubausiedlungen der ehemaligen DDR an. Schätzungen von Experten zufolge sollen in den neuen Bundesländern bis zu einer Million Wohnungen abgerissen werden.

Von einer Abrisswelle wie in den ostdeutschen Randlagen kann in Berlin noch keine Rede sein. Auch HoWoGe-Sprecherin Angela Reute betont, dass es sich beim geplanten Abriss in der Möllendorffstraße um „einen Einzelfall“ handele. Doch dieser Einzelfall hat eine hohe Symbolkraft. Schließlich sind es nicht nur Wohnungen, Büros und Geschäfte, die die HoWoGe am „Rathausdreieck“ errichten möchte, sondern auch der Neubau einer eigenen Firmenzentrale. Deutlicher könnte die Distanz der HoWoGe, die in Lichtenberg und Hohenschönhausen 49.000 Wohnungen verwaltet, gegenüber dem eigenen Bestand nicht ausfallen.

Zur These vom Einzelfall will auch die Leerstandsquote an der Möllendorffstraße nicht recht passen. Ein Drittel der Wohnungen in der unsanierten Platte haben inzwischen keine Mieter mehr. Zwar betont die Sprecherin der Wohnungsbaugesellschaft, dass es in Berlin „keinen strukturellen Leerstand“ gebe. Allein die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Zwar sind in Berlin inzwischen 70 Prozent der 273.000 Plattenbauten saniert, doch der Leerstand wächst auch hier. Rund zehn Prozent der Wohnungen in den nordöstlichen Bezirken stehen inzwischen leer, Tendenz steigend.

Vorreiter Marzahn

Kein Wunder, dass die Berliner Abrissdiskussion deshalb vor allem in Marzahn geführt wird. 31.000 Bewohner haben den Bezirk in den vergangenen Jahren verlassen. Erst vor kurzem hat das Büro PlanQuadrat im Auftrag des Bezirksamts ein städtebauliches Konzept für Marzahn-Nord vorgelegt, in der an Stelle der Elfgeschosser an der Rabensteiner Straße der Neubau von Stadtvillen vorgesehen ist. Auch CDU-Bildungsstadtrat Bernd Wolf hat sich deshalb schon über einen „Rückbau“ Gedanken gemacht: „Zumindest die Reduzierung der Elfgeschosser auf fünf oder sechs Stockwerke könnte ein Weg sein.“ Und auch die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn hat bereits über Abrisse „nachgedacht“. Voraussetzung dafür sei aber, so Sprecherin Erika Kröber, „dass das Grundstück wie in Lichtenberg durch den Abriss an Wirtschaftlichkeit gewinnt“.

Was Marzahn von Lichtenberg, Hellersdorf und Hohenschönhausen unterscheidet, ist auch der relativ große Bestand an unsanierten Plattenbauwohnungen. Dass die Abrissdiskussion gerade hier einsetzt, hat deshalb nicht nur städtebauliche, sondern auch „soziale“ Motive. Vor allem in Marzahn-Nord und Marzahn-West konzentrieren sich Sozialhilfeempfänger, darunter viele der 13.000 Russlanddeutschen im Bezirk. Gezielte Abrisse, wird deshalb auch in der Bauverwaltung hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, könnten deshalb die Konzentration von „Problemgruppen“ an sozialen Brennpunkten verlangsamen.

„Soziale“ Motivation

Ähnlich hatte auch schon Senatsbaudirektor Hans Stimmann argumeniert, als er den Abriss des Sozialpalastes in Schöneberg forderte. Und ähnlich argumentiert auch der Vorsitzende des Gesamtverbandes Deutscher Wohnungsunternehmen (GdW), Jürgen Steinert. Ohne eine Förderung des Abrisses durch die öffentliche Hand, so Steinert, drohe den Wohnungsbaugesellschaften nicht nur eine Pleitewelle, sondern den Quartieren auch eine „Verslumung“. Anstatt darüber nachzudenken, wie man mit sozialen Problemen in den Schrumpfungsquartieren umgeht, scheint es noch immer en vogue zu sein, nicht die Probleme, sondern die Problemgruppen aus dem Weg zu räumen.

Offiziell will man in der Bauverwaltung von der Abrissdebatte allerdings nichts wissen. „Kein Thema“, sagt die Sprecherin von Bausenator Peter Strieder (SPD). Wie schnell sich Themen ändern können, hat allerdings die Geschäftsführung der HoWoGe bewiesen. „Abriss kommt für uns nicht in Frage“, hatte HoWoGe-Geschäftsführer Eckart Baum noch im August behauptet. Nun freilich steht Berlin wegen des geplanten Baus einer neuen Firmenzentrale mitten in der Abrissdebatte, die doch keine sein soll.