: Quotenidioten ist nix verboten
DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH
Zeichen der Zeit: Ihres „unique selling proposals“ offenbar überdrüssig, will die große Dicke aus dem Norden nicht mehr die aus- und abgewogenste von allen sein. Sondern drischt neuerdings beherzt bis wutschäumend auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein. Evergreens der deutschen Mediendebatte wie die zerkratzte Hit-Single „Kotau vor der Quote“ kommen zum Vortrag, die düstere „Selbstkommerzialisierung“ und natürlich die mahnende Ballade von der „bunten Bilderflut“. Albumtitel: „Die Quoten-Idioten“. Drollig, denn das Blatt selbst ist mehrfacher Meister im Gesichtheben. Mit Blick auf den umstrittenen Teil „Leben“, gerade eines neuerlichen Faceliftings genesen, klingt die Klage der Zeit über ARD und ZDF nach Notruf aus der Selbsthilfegruppe. Der im guten Sinne konservative Journalismus des Restblattes war wirtschaftlich so erfolgreich, dass die Holtzbrinck-Gruppe retten kommen musste: Zeit isst Geld. Kaufen die dann auch die ARD?
Nüchterner betrachtet, irren die nicht kommerziellen Sender in einem unentrinnbaren Labyrinth umher: Gibt man sich unterhaltsam, tönt es: „Das können die Privaten besser!“ Sendet man dagegen unerschrocken am breiten Publikum vorbei, jault es in dessen Namen: „Und dafür zahlen wir Gebühren!“ Die neue Mitte, bitte, sei aber im „Qualitätsfernsehen“ zu suchen. So, als gäbe es für Auge und Ohr bekömmliche Kost mit viel Nährwert; cholesterinfreie Gameshows, Vollkornformate und gern auch Abführfernsehen für Zuvielgucker. Tja: Schnell ist Kritik bei der Hand, wenn das Programm „zum Kotzen“ ist. Aber welche Sendung taugt nachweislich zum Gegenteil?
Das weiß keiner. Unerhört zum Quadrat blieb die Weizsäcker-Kommission zum Fernsehen. Sie forderte „eine Art Stiftung Warentest“ für das Leitmedium. Das sind gleich zwei Vermutungen: Dass das Fernsehen die Gesellschaft leite, Meinungsbildung und letztlich Weltbild bestimme, ist plausibel. Aber Axiom? Dass es dies auf gute oder schlechte Weise tue, unwürdig oder human leiten könne, ist eine zweite, auch augenfällige, aber eben auch unbewiesene Annahme. Der postmoderne Postminister Schwarz-Schilling räumt heute ein, man habe sich vom privaten schlicht ein CDU-näheres Fernsehen erhofft. Und sei bitter enttäuscht worden. Die Kommerzialisierung brachte mehr Schrott. Logisch: Sie brachte von überhaupt allem viel mehr. Um Qualität zu erzeugen, könnte es nicht schaden, vorher zu definieren, worin Qualität denn bestehen soll.
„Big Brother“ und seine Nominierung zum Deutschen Fernsehpreis sorgten für Empörung. Der WDR-Vorläufer „Die Fußbroichs“ bekam für die nämliche Idee den Grimme-Preis. Und dass der ganze Spaß schon Mitte der Neunziger als „Das wahre Leben“ auf Premiere lief, hat keiner gemerkt. Verdacht: Hier wird nicht das Produkt bewertet, sondern die Absicht, die man ihm unterstellt. Wenn die gleiche Formatidee mal großartig, mal verachtenswert und mal ganz egal sein kann, befinden wir uns offenbar in einer Fakultät, die nur neidvoll blicken kann auf so unbestechliche Wissenschaften wie, sagen wir mal, Restaurantkritiken oder die B-Note für den künstlerischen Eindruck.
Anfangs versuchte das Fernsehen noch, sich seiner selbst zu vergewissern: Bernhard Wembers grundlegende ZDF-Studie leuchtet adamriesig aus den frühen Siebzigern herüber. Das Medium, so bewies der Forscher im Auftrag der „heute“-Redaktion, geriert sich als Reizdusche. Fahnen flattern, Soldaten stiefeln durchs Bild, Staatskarossen fahren vor: Jeder kennt diesen Film in tausendfacher Version, keiner erinnert die tausendfachen Inhalte. Wember fand und erfand so die „Bild-Ton-Schere“. Jenen Mechanismus, mit dem das Fernsehen die Inhalte, die es zu transportieren vorgibt, systematisch zu zerstreuen neigt.
Heute gebiert die Minutenquote so possierliche Regeln wie etwa die, ein Interview in möglichst viele Schauplätze und Bilder zu zerlegen. Kommt der Gesprächspartner zum Punkt, gilt es, Kamera, Licht und Ton umzubauen, damit das Statement quotenfördernd eingeschnitten werden kann: Dreimal dröger Professor vor dreimal dröger Bücherwand ist ein Ausschalter. Wohl also dem Interviewpartner, der – vom Team durchs Büro gehetzt – nach jedem Umbau noch leidlich weiß, wie sein Satz weitergehen sollte. In der TV-Werbung hat sich die Schnittfrequenz von sieben, acht Sekunden Anfang der Siebziger auf bis zu drei und mehr Bildwechsel pro Sekunde verdichtet. Qualität ist, was ballert. Würde das bedeuten. Genauer: Qualität ist, was trotz Ballern noch rüberkommt. Noch genauer: Nur weil etwas grottenlangweilig war, muss es noch nicht gut gewesen sein.
So treten TV-Schaffende täglich neu ihre quotengestützte Nebelreise auf der intellektuellen Flughöhe erfahrungswissenschaftlicher Medizinmänner an. Erstaunlich genug, bedenkt man die Eingangsprämisse, dass dieses Medium wie kein anderes die Geschicke der Gesellschaft beeinflusse. Die Werbebranche dagegen forscht detailliert; für sie sind dreißig Sekunden kein Problem, sondern ein Rieseninvestment, das gut erwogen sein will. Hier gibt man wenig auf klassische Fernsehkritik. Und viel auf Wahrnehmungspsychologie, Publikumstests, Gruppendiskussionen. Instrumente, die die Privatsender sogleich adoptierten. Und aufs Restprogramm rings um die Werbespots übertrugen. Doch der Werber fragt: „Wie stellen wir es an, dass unsere Kaufbotschaft eher unbewusst, jedenfalls nicht zu deutlich überkommt?“ Das soll sich ein „Tagesthemen“-Redakteur für seinen Filminhalt mal zu fragen wagen. Gefeuert müsste er werden.
Von Gott und der Wissenschaft verlassen sitzt der TV-Macher also da und kann nicht anders. Er weiß vom gemeinen Comment, dass sein Tun eh eitel Abschaum sei, dass er die Leute zu Tode unterhalte. Aus seinen Konzepten trieft Redaktionsphilosophie, Senderphilosophie, Filmphilosophie – weil es keine tatsächliche Philosophie gibt. Triviales Medienschaffen ist aus akademischer Sicht bah-pfui. Wissenschaft umgekehrt kommt aus redaktioneller Sicht wie unergründliche Teilchenphysik daher. Seit ein paar Wochen kann man unter www.quote-tv.de einen Pilotversuch abrufen, der – bisher nur in Brandenburg – Einschaltquoten live misst. In der Redaktion gucke ich mit einem Auge unsere Sendung, mit dem anderen das Zucken unserer Quote während jeder Sekunde. Kommt ungefähr so, als könnte ich beim Chipsessen parallel meinen Cholesterinwert tanzen sehen. Nicht gesund, aber lustig.
Gerade marschieren so genannte Neonazis durchs Bild. Das zuckt. Fahnen schwenkend, Soldatenstiefel tragend, ganz medienkompatibel. Ein heute vielleicht achtzehnjähriger Skinhead hat seine frühesten Vorbilder darin vermutlich seit Ende der Achtziger im Fernsehen bekommen: in gut gemeinten Anti-Nazi-Spots. Ist ja irre, wie Fernsehen so funktioniert. Neulich gab es in Berlin ein Symposium der Bundesregierung zu „zerstreuten Öffentlichkeiten“. Wie ist das Wechselspiel zwischen Medien, Politik und Wissenschaft? Wichtig, nötig, klug, zu spät: In den Dabatten gings ruck, zuck ab in Richtung Internet. Warum über ein Altmedium nölen, das man nicht begriffen hat? Es gibt doch ein schönes neues, das man nicht begreift.
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