Tragische Familie, die sich selbst verdaut

■ Knöcheltief im Wasser: Das zerstörerische Orestie-Personal in Percevals „Aars!“

„Theater muss extreme Standpunkte einnehmen. Man muss die Bedeutung des Theaters aufs Neue erzwingen.“ Luk Perceval tut tatsächlich, woran er glaubt. Dass er dabei das Publikum nicht schont, hat bereits sein preisgekrönter zwölfstündiger Theatermarathon Schlachten! gezeigt. Auch Percevals Aars!-Inszenierung sucht die Extreme: Gemeinsam mit dem Schriftsteller Peter Verhelst hat der Regisseur eine eigenständige Version der antiken Orestie erarbeitet. Heute Abend erlebt das Stück seine Deutsche Erstaufführung auf Kampnagel.

Anatomische Studie der Orestie lautet der Untertitel von Aars!, das folglich nur noch wenig mit dem Originaldrama von Aischylos gemeinsam hat. Perceval und sein Team vom Theater Het Toneelhuis aus Antwerpen haben sich in dieser Inszenierung vielmehr auf die zentralen Kräfte der griechischen Familientragödie konzentriert: Macht, Gewalt und Sex. Diese bestimmen das Miteinander von Vater Agamemnon, Mutter Klytämnestra und ihren Kindern Elektra und Orestes.

Das dreiteilige Stück von Perceval und Verhelst entwirft das zeitlose Bild einer Familie, die sich wie eine Schlange selbst verschlingt und verdaut. So gibt es im traditionellen Sinne keine Handlung. Vielmehr illustrieren die Szenen den archaischen Selbstzerstörungstrieb der vierköpfigen Familie. Die Grundstimmung ist orgiastisch: Inzest und Geschlechtsgier treiben den Untergang voran, das Theaterblut fließt in Strömen. Am Ende sind alle tot, nur Elektra hat überlebt.

Als kreisrunde Spielfläche dient ein flaches Bassin, das knöchelhoch mit Wasser gefüllt ist. So treffen die vier Protagonisten in einer Art Arena aufeinander. Den antiken Chor ersetzt DJ Eavesdropper mit seiner ebenso disparaten wie sphärischen Musik. Percevals flämische Schauspieler haben Rainer Kerstens deutsche Übersetzung des Originaltextes gelernt. Nach den Aufführungen auf Kampnagel gastiert das Ensemble mit Aars! noch in Hannover, Zürich und Berlin.

Die Urauffhrung von Aars! beim Holland Festival im Juni dieses Jahres geriet zum Ereignis. Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel schwärmte etwa: „Luk Percevals Brutalität und Konsequenz suchen ihresgleichen. Diese Brüche, dieser atmosphärische Umschwung, diese finstere Kraft!“ Und Thomas Irmer von Theater der Zeit befand: „Percevals 'Aars!' wird theatral und inhaltlich zu den wichtigsten Herausforderungen für das deutsche Theater in diesem Herbst gehören.“ Eine Herausforderung für den Zuschauer ist es allemal, auch wenn Aars! keine zwölf, sondern nur knapp zwei Stunden dauert: Zartbesaitete Gemüter wählen besser Plätze nah am Ausgang. Dagmar Penzlin

Heute sowie 27. bis 29. Oktober, jeweils 20 Uhr, Kampnagel