Ein Genussmensch, vollkommen pervers

■ Puccinis Oper „Tosca“ wurde schon rauf und runter genuckelt. Der Regisseur Michael Schulz inszeniert am Bremer Theater trotzdem eine ganz neue Sicht

Giacomo Puccinis 1900 uraufgeführtes „Melodramma“ „Tosca“ ist eine der populärsten Opern des gesamten Repertoires. Obschon viel gescholten, ist Puccinis eminente Theaterbegabung trotzdem nie in Frage gestellt worden. „Tosca“ basiert auf einer wahren Begebenheit: Victorien Sardou hat einen Tag im Juni aus einer römischen Chronik 1800 dramatisiert. Rom ist französische Republik und Baron Scarpia Chef des Polizeiapparates. Der Maler Cavaradossi wird verdächtigt, den flüchtigen Hochverräter Angelotti versteckt zu halten. Scarpia begehrt seine Freundin, die Sängerin Floria Tosca, und erpresst sie mit der Folterung Caravadossis. Tosca bringt Scarpia um. Am Bremer Theater inszeniert jetzt der junge Essener Oberspielleiter Michael Schulz das Werk.

taz: Herr Schulz, ist Puccinis Bekenntnis zum Verismus 1900 nicht bereits ein Anachronismus?

Michael Schulz: Wenn man unter Kitsch die Überbewertung von Emotionalität versteht, dann kann die Musik von Tosca nicht nur anachronistisch, sondern kitschig werden. Aber genau darauf basiert ja Puccinis Beliebtheit. Man darf also keineswegs die Emotionalität opfern, sondern man muss einfach die Geschichte sehr genau erzählen.

Kann man sagen, dass es Puccinis dramaturgische Absicht ist, zwischen den ZuschauerInnen und den Personen der Bühne eine Identifikation zu schaffen? Und wie wäre das angesichts eines epischen Theaters wie dem von Brecht und Weill zum Beispiel zu bewerten?

Ich werte es nicht negativ. Puccinis identifikatorischer Ansatz ist ja genau das, was die Leute heute wollen, Seifenoper, Big Brother und so. Aber das muss man eben unglaublich vorsichtig machen. Was ich nicht will, ist „Konzepttheater“, wo Geschichten und Figuren zugunsten von intellektuellen Konzepten vergewaltigt werden. Puccinis Musik unterstützt die Szenen, sie landet sofort, sie löst Vorgänge im Körper aus. Da hat man nicht viel Interpretationsraum.

Welche Rolle spielt denn für Sie das historische Ereignis und die literarische Vorlage von Sardou, in der zum Beispiel der Angelotti im Gefängnis nur deswegen sitzt, weil er zwei Bücher von Voltaire bei sich hatte?

Mit Sardou habe ich mich nicht beschäftigt, die Historie hingegen ist wichtig. Mir geht es darum, dass diese ganz kleine Episode der Geschichte allgemein gültig ist. Das hat es immer gegeben, das wird es immer geben, denn der Mensch lernt nicht.

Es gibt eine politische Handlung und eine Liebeshandlung. Was akzentuieren Sie?

Beides. Cavaradossi und Tosca sind ganz normale Menschen, die in die totalitäre Maschinerie geraten. Sie sind die unreflektierten Repräsentanten der Gesellschaft, Cavaradossi malt für die Kirche und Tosca singt für den Staat. Sie sind keine Helden, und auch Toscas Mord an Scarpia ist eine vollkommen private Notwehr.

Sie haben eben gesagt, Caravadossi und Tosca sind normale Menschen. Können Sie Ihre Sicht der drei Hauptpersonen beschreiben?

Scarpia ist ein Mensch mit unendlichen Abgründen. Er geht über Leichen für private Obsessionen, wie die ganze Diktatorengilde im 20. Jahrhundert. Er ist ein totaler Genussmensch, vollkommen pervers, und er geht daran zugrunde. Tosca ist eine einfache Frau, sie ist ja die Tochter eines Schäfers und genießt ihre Begabung und ihre Wirkung. Und Cavaradossi ist ein Voltairianer, ein Freidenker, der nicht bereit ist, sich zu beugen.

In der Partitur spielt die letzte Szene in und auf der Engelsburg. Gibt es die bei Ihnen? Wo und wann siedeln Sie das Stück an?

Ungefähr nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber ich zeige kein konkretes totalitäres System, sondern ganz allgemein einen Polizeistaat.

Puccini wollte uns etwas erzählen. Was will Michael Schulz?

Zeigen, dass solche Systeme immer wieder und überall entstehen können. Es ist mir wichtig, das an uns heute heranzubringen, dass private Gefühle zu einer Sache gemacht werden können, die auf brutalste Weise benutzt werden kann.

Ute Schalz-Laurenze

Premiere von „Tosca“ im Theater am Goetheplatz 29. Oktober um 19.30 Uhr. Regie: Michael Schulz, musikalische Leitung: Günter Neuhold.