Filmstarts á la carte
: Anarchistische Kinderverschwörung

■ Als der französische Regisseur Jean Vigo 1934 im Alter von nur 29 Jahren an Leukämie verstarb, hinterließ er ein Gesamtwerk von nur vier Filmen: „A propos de Nice“, eine witzig-surrealen Einfällen nicht abgeneigte Dokumentation über reiche Müßiggänger in Nizza, die kurze Etüde „Taris, roi de l‘eau“ mit dem populären französischen Schwimmer, den einzigen abendfüllenden Spielfilm „L‘Atalante“, eine dem poetischen Realismus nahe stehende Geschichte von Freud und Leid eines jung vermählten Paares auf einem Kahn, und das kleine anarchistische Meisterwerk „Zéro de conduite“. In seinem 1933 entstandenen Kurzspielfilm erzählt Vigo von einer Kinderverschwörung im Internat, wo verknöcherte Lehrer und Aufseher vor allem auf Disziplin achten und gegen die jungen Rebellen doch keine Chance haben: Das würdige Schulfest mit dem Präfekten wird letztlich im Hagel von Wurfgeschossen untergehen. Nie zeigt Vigo, dass die Schüler hier etwas lernen, stattdessen werden - neben den Streichen der Kleinen - ausführlich die Gemeinheiten dokumentiert, die Erwachsene den Kindern antun: Der Oberaufseher durchstöbert die Taschen der Kids und stiehlt die Schokolade, und der fette Biologielehrer streicht einem mädchenhaften Jungen immer wieder derart anzüglich durchs Haar, dass dieser schließlich vor der ganzen Klasse und dem versammelten Lehrerkollegium „Scheiße“ ruft. Die französische Zensur nahm Vigos mit überbordender Fantasie erzählte Rebellions-Geschichte immerhin so ernst, dass sie bis 1945 verboten wurde.

„Zéro de conduite“ (Betragen ungenügend) (Om engl. U), „L‘Atalante“ (Om engl. U) 29.10. im Arsenal 2

■ Wie seine Person, so sind auch Veit Harlans Filme von vielen Gegensätzen und Widersprüchen geprägt: Auf den ersten Blick mag der häufig wiederkehrende Konflikt zwischen Land und Stadt wie geschaffen erscheinen für die propagandistische Umsetzung der nazistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Doch interessanterweise denunziert der für seine Propagandawerke berüchtigte Harlan seine lebenslustigen, unsteten Figuren, die aus der geistigen und räumlichen Enge ihrer kleinen Dörfer auszubrechen versuchen (und dabei so oft scheitern), keineswegs. Auch in dem populären Melodrama „Immensee“, einer modernisierten freien Bearbeitung der Novelle von Theodor Storm, erscheint der Komponisten Reinhart, dessen rastloses Leben in der „großen Welt“ seine Jugendliebe Elisabeth einem Gutsbesitzer in die Arme treibt, allemal interessanter als der bodenständige und ziemlich langweilige Konkurrent. Dem Gegensatz von Stadt und Land entspricht der Kontrast zwischen Innen und Außen: Die immer etwas überladenen, künstlichen Interieurs finden ihren Widerpart in Harlans Liebe zur Natur und seinem Gespür für die Landschaft, in der seine Protagonisten meistens die unbeschwertesten - Momente ihres Glücks - wie Elisabeth und Reinhart auf der Bank am See - erleben. Und der Begeisterung für das Natürliche entsprach auch die Erotik der von Harlan geradezu obsessiv in Szene gesetzten Hauptdarstellerin Kristina Söderbaum: feminin, frisch und unverdorben.

„Immensee“ 26.10. in der Urania, 1.11. in den Eva- Lichtspielen

■ Orgasmusmaschine oder Handarbeit? So lautet nur eine der vielen entscheidenden Fragen, denen sich Woody Allen in seiner Science-Fiction-Komödie „Sleeper“ stellen muss, als er nach 200 Jahren Kälteschlaf in einer durchweg technisierten Zukunft erwacht, deren Tücken der Maestro mit sehr viel mehr visuellen Gags als üblich zu gestalten versteht. Ein Kampf mit einem Riesenpudding aus der Tüte, ein VW, der immer noch läuft, ein „Führer“, dessen Nase unter einer Dampfwalze landet: Allens unbeschwertes Spiel mit dem Slapstick zeigt den Regisseur von einer Seite, die er in späteren Filmen zugunsten eines eher literarischen Humors vernachlässigte.

„Sleeper“ (Der Schläfer) (OF) 28.10. im Arsenal 2

Lars Penning