Falsch im richtigen Film

Wie küsst man einen Fernsehdoktor? Mit seinem dritten Film, „Nurse Betty“, arbeitet sich Neil LaBute am Angriff der Soap-TV-Komödien auf das alltägliche Leben ab –gestorben wird bei ihm dagegen mit viel Blut im Tarantino-Stil

An Horror hat sich Renée Zellweger schon vor sechs Jahren gewöhnt. Damals durfte die heute 27-jährige Schauspielerin in „Texas Chainsaw Massacre: Die Rückkehr“ kreischen, wenn die Säge kam. Nun schaut sie nur noch ängstlich durch den Türschlitz, wenn ihr Ehemann skalpiert wird und Hirnmasse auf den Teppich platscht. Das ist aber bloß ein Teil des Traumas, das sie als „Nurse Betty“ im gleichnamigen Film von Neil LaBute durchlebt.

Denn eigentlich hat Betty schon von Beginn an lediglich eines im Sinn: Sie will den Serienarzt Dr. David Ravell (Greg Kinnear) zum Mann. Nicht den echten Darsteller hinter der Rolle, sondern die Figur, die er spielt. Ihr ist die mediale Oberfläche aus dem Soap-Fernsehen zur Wirklichkeit geworden, dafür erträgt sie den Kellnerinnenjob im Eck-Diner, dafür darf sie ihr Autos verkaufender Ehemann mit seiner Sekretärin betrügen, bis ihn eben zwei Killer wegen eines verpatzten Drogendeals massakrieren. Solchermaßen von allem weltlichen Regelwerk befreit, schnappt sich die durchgedrehte Betty ein Auto und haut ab nach Los Angeles – der Serien-Doktor wartet ja schon.

LaBute galt vor seiner Filmarbeit als aussichtsreicher US-Dramatiker, seine frühen Stücke erinnern an Sam Shepard und David Mamet. Für die Bühne adaptierte er „Dracula“ und „Woyzeck“, und auch in „Nurse Betty“ merkt man schnell, dass da jemand in der Einöde Amerikas romantischen Vorstellungen von Europa nachhängt. Eine Barfrau, der Betty begegnet, schwärmt davon, einmal in Rom gewesen zu sein – der einzige Moment echter Freiheit in ihrem Leben. Doch Betty lächelt nur charmant und fährt trotzdem nach L. A.

Die Liebe, die Reise, der Westen, das Sein – mit dieser Road-Movie-Konstellation hätte sich Wim Wenders vermutlich schon zufrieden gegeben. Für LaBute muss das Drama allerdings noch ein paar Drehungen weiter geschraubt werden: Erstens hat Betty die zwei Killer am Hals, weil im Fluchtauto das Rauschgift liegt; zweitens wird sie als vermeintliche Gattenmörderin auch von der örtlichen Polizei gesucht. Und drittens gibt es noch den Doktor aus dem TV, der in Los Angeles sitzt und gar nichts von dem Glück weiß, das da aus der Provinz auf ihn zueilt.

Tatsächlich gelingt LaBute die Verkettung der immer wieder lose aufgeschnappten Erzählfäden, weil er sich an eine eiserne Regel hält: So lange träumen wie möglich. Willkommen im Land Oz! Alles, was Betty an Widersprüchen und sonstigem Irrsinn in den Weg tritt, wird von ihr sanft beiseite gewischt – der Doktor ist das Ziel. Als sie in L. A. den Arzt-Darsteller trifft, hält er ihre Inbrunst für so hervorragend gespielt, dass er ihre Verliebtheit mitspielt wie bei einem Casting. Als sie in ein reales Krankenhaus marschiert, um dort zu arbeiten, kommt ein sauber von ihr durchgeführter Lungenschnitt gerade recht, um die Stationsschwester zu überzeugen.

Stets scheint das dem Fernsehen abgeschaute Leben über die Wirklichkeit zu triumphieren. Darin liegt das ironische Konzept von LaBute. Wenn es nämlich kein wahres Leben im falschen gibt, dann ist das verfilmte Falsche womöglich schon wieder wahr. Nur der Konflikt mit den beiden Killern knirscht manchmal ziemlich laut: So muss sich der alternde Charlie (Morgan Freeman) beängstigend schwärmerisch in Betty verlieben, damit die Story nicht bereits zur Hälfte im professionell abgewickelten Blutbad endet.

Zugleich wirkt seine jugendliche Leidenschaft sehr hölzern, während sein junger Kompagnon (Chris Rock) als brutaler Gangster nur einen mäßigen Gegenpol hergibt. Irgendwie scheint LaBute hier rassistische Zuschreibungen umgehen zu wollen, indem er sie karikiert. Doch es bleiben: hier die weiße Traumfrau in ihrem Hausfrauentraum, „gesünder als Doris Day“, wie Charlie einmal sagt; und dort zwei Schwarze, die nach dem Leben-und-sterben-lassen-Prinzip funktionieren. Zuletzt darf Charlie wie betäubt feststellen, dass eine Menge Menschen gestorben sind, weil Betty zu viel ans Fernsehen glaubte. Aber daraus folgt am Ende eben auch die Selbstfindungsreise nach Rom. Das ist exakt so verlogen, wie LaBute es zeigen wollte. Die nächste Staffel kommt bestimmt.

HARALD FRICKE

„Nurse Betty“. Regie: Neil LaBute. Mit Renée Zellweger, Morgan Freeman, Greg Kinnear u. a. USA 2000, 108 Min.