Der Souverän

aus Bremen HEIKE HAARHOFF

Sie steht schon im Mantel, den Schirm überm Arm, sie hat jetzt wirklich keine Zeit für ihn. Die Einladung zum Botschaftsdinner? Feierabend ist Feierabend. Also hastet Henning Scherf an seiner Sekretärin vorbei, vermutlich hat er die Karte selbst verlegt, er öffnet die Tür zu seinem Bürgermeisterbüro, macht kehrt, guckt, als habe er versehentlich ein fremdes Schlafzimmer betreten: „Das ist ja voller Leute.“ Sie lächelt: „Die Chefs der Rechnungshöfe. Ich wusste nicht, wo ich sie sonst unterbringen sollte.“ Er nickt wie selbstverständlich.

Bürobesetzungen sind ihm vertraut. Vor 20 Jahren, als Henning Scherf noch bekennender linker Sozialsenator einer SPD-Alleinregierung in Bremen war, waren es streikende Erzieher und aufgebrachte Eltern, heute sind es die beschlipsten Chefs der Rechnungshöfe, und er ist der Bürgermeister einer Großen Koalition; die Zeiten ändern sich, „aber ich habe schon immer gesagt, das Rathaus muss offen für alle sein“.

Notgedrungen macht er es sich im Vorzimmer bequem. Kaum dass die Sekretärin aus der Tür ist, klingelt das Telefon. Bremens Bürgermeister meldet sich: „Scherf.“ Am anderen Ende der Leitung, irgendwo im englischsprachigen Ausland muss es sein, traut man seinen Ohren nicht. Henning Scherf müht sich um Überzeugungsarbeit, dann, ungehalten: „I’m the Mayor, my dear!“

Wie wird er entscheiden?

Sein Hang zum Unkonventionellen, im Privaten wie im Politischen, sorgt häufig für Verwirrung, oft für Unverständnis und in diesem Herbst und Winter, da die Länder über ein Verbot der NPD debattieren und im Bundesrat sich über Renten, Länderfinanzausgleich, Homo-Ehe und Ökosteuer streiten werden, bei vielen für die Frage: Wie wird er sich diesmal positionieren?

Henning Scherf weiß das, aber er ist mit fast 62 zu lange und zu sicher im politischen Geschäft, als dass ihn Vorgaben aus Berlin beeindrucken könnten. Da ist er ganz souverän. Im übrigen hält er sich für durchaus berechenbar: „Ich bin in erster Linie Bremer“, sagt er geduldig, „und erst dann Sozialdemokrat.“

Das haben seine Parteifreunde schon oft zu spüren bekommen: Als im Sommer 1999 die rot-grüne Bundesregierung eine schwere Krise durchlebte und die Unterstützung der SPD-geführten Länder nötiger denn je hatte, entschied sich Henning Scherf in Bremen für eine Fortsetzung der Großen Koalition. Nach dem Ergebnis der Landtagswahl wäre ein rot-grüner Senat ebenfalls möglich gewesen, aber, und daran hat sich bis heute nichts geändert: „Wir befinden uns in der Sanierung.“ Die Pleite der Vulkan-Werft ist nicht verwunden, die Verwaltung muss in den kommenden fünf Jahren auf ein Drittel ihrer jetzigen Beschäftigen geschrumpft werden, und trotz guten Wirtschaftswachstums ist die Arbeitslosigkeit immer noch viel zu hoch: „Sanierung heißt also auch, Milieus zusammenzubringen, die das Land nach vorn bringen.“ Im Sommer 2000 verhelfen diese Milieus dann überraschend und zum Groll der Bundes-CDU mit ihrer Stimme im Bundesrat der Steuerreform zum Durchbruch. Derzeit hat Henning Scherf, der 1958 den Kriegsdienst verweigerte, kein Problem damit, die Luftwaffenindustrie im strukturschwachen Bremen zu fördern. Zugleich erklärt er gern mal zum Entsetzen seines Parteifreunds Scharping, seines Zeichens Bundesverteidigungsminister, er könne sich die „Auflösung der Bundeswehr zugunsten einer europäischen Armee durchaus vorstellen“.

Für ihn ist das alles kein Widerspruch. „Das mit der Zustimmung zur Steuerreform“, sagt er und grinst spitzbübisch, „war doch seit Wochen mit der CDU verabredet, die wusste doch auch, dass wir für Bremen nichts Besseres kriegen würden.“ Allein: Die Bremer Koalition hielt nach außen dicht. „Unser Binnenklima ist gut“, sagt Henning Scherf. Er könnte auch sagen: Es ist erstklassig, Senatssitzungen dauern manchmal kürzer als die Tagesschau, und selbst wenn man CDUlern anbietet, sie nicht namentlich zu zitieren, fällt ihnen nichts ein, was an Henning Scherf auszusetzen wäre. „Diese Koalition ist ein Glücksfall für Bremen, wir entscheiden entlang der Sachlage“, schwärmt CDU-Landeschef Bernd Neumann.

Mit dem gleichen Pragmatismus, daran lässt Regierungschef Scherf keinen Zweifel, wird auch künftig verfahren. Soll heißen: Rente – vermutlich Enthaltung im Bundesrat, „das ist kein Bremer Thema“, Homo-Ehe – ganz sicher Enthaltung, „dafür riskiere ich doch keinen Koalitionskrach“, Länderfinanzausgleich – ja vielleicht, „falls wir gerecht behandelt werden“, sprich großzügig, und NPD-Verbot – ach, leidiges Thema, muss er sich dazu äußern? „Es hängt davon ab, ob der Antrag trägt.“

Fast klingt es, als wünsche er sich, dass dies nicht so sein möge. Henning Scherf ist kein Mann des Verbots. Man mag ihm vieles vorwerfen, seine „persönliche wie menschliche Neugeburt“ (Ex-SPD-Finanzsenator Volker Kröning) seit seinem Amtsantritt als Bürgermeister beispielsweise: „Mit dem hätten Sie früher mal über Sanierung sprechen sollen.“ Seinen Wandel „vom oppositionellen Aufwiegler und Scharfmacher zum Prototyp der Großen Koalition“ (CDU-Landeschef Bernd Neumann). Seinen Regierungsstil, der die enttäuschte Linke zuweilen an einen „typischen Feudalherrn“ erinnert (Grünen-Fraktionschefin Karoline Linnert).

Aber ihm zu unterstellen, er suche nicht vor jeder Entscheidung das Gespräch und den Konsens, wäre vermessen. Dafür schnackt Henning Scherf viel zu gern, wie man in Bremen sagt: Mit der Deutsch-Türkischen Gesellschaft beispielsweise, die nicht versteht, wie er einerseits zu ihr, einem durch und durch laizistischen Verein, und gleichzeitig zu fundamentalistischen Mili-Görüs-Gruppen Kontakt halten kann. „Es ist doch der beste Schutz für unsere Gesellschaft, wenn wir die Islamisten mit einbeziehen, anstatt uns vor ihnen zu verstecken“, sagt er da.

Ähnlich würde er vermutlich am liebsten mit den Rechtsextremisten verfahren, ihnen immer die Stirn bieten. Selbst mit seiner kleinen Enkelin, Tochter eines deutsch-afrikanischen Paars, würde er in Mecklenburg zelten gehen, beteuert er, mit Naivität habe das gar nichts zu tun, da guckt er fast empört, wie man ihm Weltfremdheit und Unterschätzung der Gefahr vorhalten kann.

Aber zunächst hat er für solcherlei Ausflüge keine Zeit, er ist zu sehr mit den Menschen und ihren Nöten in Bremen beschäftigt: Dem Schluckspecht in der Fußgängerzone klopft er auf die Schulter: „Junge, du hast dir einen zuviel über den Durst getrunken.“ Die Frau an der Garderobe vor den Messeständen kennt er mit Vornamen, über Architekten, Konsuln und Universitätspräsidenten sagt er: „Ich hab die richtig gern“, nach einer halben Stunde Gespräch mit ihm ist man seine „liebe Freundin von der taz“, und nach einem Tag in seinem Schlepptau steht zu befürchten, dass er behaupten wird: „Wir lieben uns richtig.“ Nicht, dass Henning Scherf übergriffig wäre, anbiedernd gar.

Er mag Menschen ganz schlicht, er könnte nicht ohne sie sein, seine Frau und er, beide Anfang 60, wohnen immer noch in einer achtköpfigen Wohngemeinschaft mitten in der Innenstadt, und er versteht es, die Menschen für sich einzunehmen. Das ist sein Stil, das hat ihm bei allem politischen Wandel in den vergangenen 20 Jahren den Erfolg gesichert. Seine Beliebtheit in der Bevölkerung wird mittlerweile nur noch von der des einstigen Bürgermeisters Hans Koschnick überboten. „Meine Frau sagt, ich sei populistisch.“ Es scheint ihm nicht viel auszumachen. „Ich glaube, ich bin süchtig nach Anerkennung.“

Treffender kann man das kaum formulieren. Henning Scherf verlangt, bei aller Freundlichkeit und allem Verständnis für andere, dass er im Gegenzug selbstverständlich auch gemocht wird. Alles andere irritiert ihn. Und zwar so sehr, dass er auch zu ungewöhnlichen Maßnahmen greift. „Als in Nicaragua die Revolution Erfolg hatte und die linken Kids die SPD nicht mehr ausgehalten haben, dachte ich, da musst du aufpassen“, erinnert sich Henning Scherf. Anstatt sich damit abzufinden, dass viele Linke ihn, den Senator, den Repräsentanten des Kapitalismus und der Staatsmacht, zusehends ablehnten, zwang er ihnen das Gespräch auf. Mehrere Monate arbeitete Henning Scherf in den 80er-Jahren als Kaffeepflücker in Nicaragua. „Da haben unsere Internationalistas aber Bauklötze gestaunt.“ Er lacht. Nicht alle hat er auf diese Weise für sich gewinnen können. Aber einige. Das reicht.

Warum kein offenes Wohnhaus?

Er blickt auf die Uhr, fährt zusammen. Das Botschaftsdinner, herrje! Er blickt an sich hinunter, das weiße Hemd ist fast faltenfrei, die graue Stoffhose unbefleckt, aber ein Anzug, findet er, ein Anzug wäre schon angemessen. Was tun? Seinen Dienstwagen hat sein Referent und Mitbewohner bereits mit nach Hause genommen. Ohnehin fährt Henning Scherf meistens Fahrrad. Aber auch das ist nicht da. „Kommen Sie“, ruft er da, „kommen Sie am besten mit zu mir nach Hause.“ Zehn Minuten dauert der Fußweg vom Rathaus bis in die schmucke Stadtvilla mit Stuck und Garten normalerweise. Henning Scherf braucht 20. Nicht, weil er vor sich hin schlurfte. Er hat einen sehr aufrechten, schnellen Gang. Aber ein 2,04-Meter-Mann ist einfach nicht zu übersehen. Tach auch hier, Umarmung da. Dann endlich zu Hause, großer Küchentisch, viele Zeitschriften, gemütliche Unaufgeräumtheit, der Kühlschrank: „Bedienen Sie sich, schauen Sie sich um“, ruft er und verschwindet. Er hat nichts zu verbergen, wenn sein Rathaus schon allen offen steht, warum dann nicht auch sein Wohnhaus? Fünf Minuten später kommt er wieder, eine Krawatte mit den Bremer Stadtmusikanten um den Hals. „Gut, oder?“ Es hilft nichts, man muss jetzt einfach ja sagen.