Opfer und Kämpfer

Holprig sind die Wege und Straßen auf Kuba – keine gute Voraussetzung für Körperbehinderte. Und auch in der Rollstuhlwerkstatt von Havanna ist Improvisation das oberste Gebot

von KARIN CEBALLOS BETANCUR

Rechtes Bein, linkes Bein, rechtes Bein, linkes Bein. Beim Gehen stellt sich ein Fuß dem anderen in den Weg, ein Hindernis, das es Schritt für Schritt zu überwinden gilt. Aber er läuft.

„Ich bin so auf die Welt gekommen“, sagt Javier Mena und schlägt dabei auf sein rechtes Bein, das einige Zentimeter kürzer ist als das linke. „Als meine Mutter im fünften Monat schwanger war, fiel sie aus einem Bus. Ich kam dann so.“ Er schaut an sich herunter: „Der Arzt hat gesagt, man könnte operieren, aber die Chancen stehen fünfzig-fünfzig: Entweder kann ich besser laufen, oder ich muss im Rollstuhl sitzen. Das Risiko will ich nicht eingehen.“ Javier läuft. „Ich konnte immer laufen.“ Durch die löchrigen Straßen von Centro Habana.

Die Rollstuhlwerkstadt liegt an der Calle San Martín im Zentrum. Ein Pressholzschreibtisch, zwei Kunstledersessel und Che Guevara an der blau gestrichenen Wand, der damals die Fahrradwerkstatt Heriberto Mederos in der Provinz Villaclara eröffnete, wo seit fünf Jahren wieder Rollstühle produziert werden.

1990 wurde der Taller Escuela de Construcción y Reparación de Sillas de Ruedas mit Unterstützung der Caritas gegründet. „Die Idee war, dass Behinderte aus anderen Provinzen und Municipios herkommen, lernen und zurückkehren, um ihr Wissen weiterzugeben.“ Carlos Rodríguez, der Werkstattverwalter, kratzt sein stoppeliges Kinn. „Dann kam die período especial, und die Sache wurde kompliziert, die Unterbringung, der Transport.“ Vier Leute arbeiten heute in der Werkstatt: Verwalter, Sekretärin, Mechaniker und Javier Mena.

Früher sammelte er mit dem Fahrrad Rohstoffe ein, „viel Arbeit, immer hin und her“, baute in einer Fabrik Kühlschränke zusammen. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er an der Calle San Martín. „Es gibt auch besondere Behindertenwerkstätten, wo sie Geschenkkisten herstellen und piñatas – Gipsfiguren – für Kindergeburtstage.“ Manche arbeiten zu Hause und bekommen eine kleine Rente. Javier ist dreißig. Er blickt auf seine Beine. „Ich kann laufen.“

35 bis 40 Rollstühle pro Woche reparieren sie in der Werkstatt, sowjetische, US-amerikanische, kubanische Modelle, „was sie uns bringen, wo Bedarf besteht“. Weggeworfen wird nichts, weil alles noch irgendwo als Ersatzteil taugen könnte – das älteste Modell im Lager, ein chinesisches Fabrikat, stammt aus den Sechzigerjahren. Die Mechanik der Stühle, erklärt Carlos Rodríguez, ist sehr einfach, ähnlich wie die von Fahrrädern. Ähnlich oft gehen die Stühle kaputt. „Sieh dir die Straßen an. Überall Steine, Scherben, Schlaglöcher. Stühle ohne Luftschlauch halten zwar mehr aus, aber sie sind auch härter – schlecht für Nieren und Wirbelsäule.“ Meistens reparieren sie die Stühle am gleichen Tag, „so schnell wie möglich jedenfalls, weil viele keinen Ersatzrollstuhl haben und ohne ihn im Bett bleiben müssen“, sagt Rodríguez. Über einer Schleifmaschine der Marke „Flott“ mit GS-Stempel für „Geschützte Sicherheit“ das Schild: No se hacen trabajos particulares. Keine Extraaufträge. „Oft kommen Leute und sagen, hör mal, ich hab hier einen Tisch, ein Messer, kannst du nicht mal ... Dafür haben wir keine Zeit.“

Im Innenhof taucht Javier ein Metallstück in eine Dose mit der Aufschrift „60 Würstchen nach Frankfurter Art“. Petroleum schwappt über. Ein Hund schläft neben einem Rollstuhl mit Tablett und Fächern im Setzkastenprinzip. „Der gehört einem alten Mann, der auf eigene Rechnung Sachen verkauft, Kaugummis, so was.“ In der Ecke ein turmhohes Metallskelett aus Rohren und Reifen: Rohstoffe, die der Staat einsammelt und wiederverwertet. Aber seit einer Woche ist der Lastwagen kaputt.

Sachspenden aus Nord- und Südamerika, Kanada und Europa verteilt die kubanische Behindertenorganisation Asociación Cubana de Limitados Físico-Motores (Aclifim) an die ihr angeschlossenen Einrichtungen. Der Dachverband kämpfe viel mit dem Staat um Verbesserungen, sagt Rodríguez, und dass der Staat tut, was er kann.

Als Aclifim 1980 gegründet wurde, zählte sie fünf Mitglieder. „Zwei haben überlebt, einer bin ich.“ Angel Pla Cisneros sitzt im Rollstuhl und grinst. Heute zählt der Verband landesweit 47.000 Mitglieder in 14 Kreis- und 47 Munizipalgruppen. Die Statuten weisen die soziale Integration physischmotorisch Behinderter als vorrangiges Ziel aus.

Reifen humpeln über das Pflaster der Plaza de la Catedral, stolpern über den pockennarbigen Asphalt am Malecón, vorbei an Fassaden, hinter denen die Legende vom morbiden Charme Havannas ein anderes Leben führt. Ein Dreirad mit Handantrieb presst sich an stehenden Autos vorbei, auf der kleinen Ladefläche hockt eine Frau, die ihrem Gatten am Lenkrad Orangenschnitze in den Mund schiebt. Mit dem Augenschein als Gradmesser lässt die Präsenz der Behinderten im kubanischen Alltag auf soziale Akzeptanz schließen. „Wir sind ein sehr solidarisches Land, aber es gibt Vorurteile, Ängste, Überprotektion und Mitleid.“ Das normale Miteinander sei Teil eines langen Erziehungsprozesses, sagt Angel Pla Cisneros. „Es geht uns ein bisschen wie den Frauen: Es gibt den machismo noch im Kuba des Jahres 2000, aber sie haben sich organisiert, emanzipiert, es geht vorwärts. Auch den Rassismus gibt es noch, aber nicht auf gesetzlicher Basis. Es wird weniger.“

Schätzungen auf Grundlage des Zensus von 1981 zufolge leben auf der Karibikinsel rund 600.000 Menschen mit Behinderungen, fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Etwa 150.000 sind körperbehindert. Die Ursachen seien unterschiedlich, sagt Pla Cisneros, „hauptsächlich Unfälle, weil bei uns ansteckende Krankheiten weitgehend ausgemerzt sind“. Für seine Mitglieder veranstaltet der Verband Campingausflüge, Exkursionen, Museumsbesuche. „Vor allem bei Leuten, die als Erwachsene durch einen Unfall behindert werden, ist es wichtig, sie aus Depressionen und Scham ins Leben zurückzuholen.“

An politischem Willen habe es nie gefehlt, sagt er und erzählt von 274 ambulanten Lehrern, die in den letzten fünfzehn Jahren insgesamt 578 behinderte Kinder auf dem Land betreut haben. Von Sonderschulen wie dem Internat Solidaridad con Panamá, wo seit 1989 150 Kinder mit besonders schweren Körperbehinderungen lernen. Von den Transportdreirädern, die eine Fabrik in Havanna herstellt, „weil das mit den öffentlichen Bussen schwierig ist, schon für die Allgemeinheit“.

Mag die Politik auch willig sein, die Mittel sind knapp. Wo der Kampf der Architekten Verfall und Einsturz gilt, ist an Rampen und Aufzüge kaum zu denken. So schwebt die Norma Cubana para la Eliminación de las Barreras Arquitectónicas kaum mehr als schöner Schein über den Bauprojekten. 1991 erlassen, soll sie den behindertengerechten Zugang zu Gebäuden gewährleisten. „1992 wurde wegen der Spezialperiode aber kaum gebaut, 1993 auch nicht, danach konnte man wirtschaftlich wieder ein bisschen atmen.“ Als das Benzin knapp wurde und der Verkehr in der Hauptstadt von Felgen auf Speichen umsattelte, vereinbarte die Aclifim immerhin, dass die staatlichen Fahrradwerkstätten auch Rollstuhlreparaturen übernehmen. An den Straßen Línea und 23 hat die Organisation inzwischen Rollstuhlrampen an den Bürgersteigkanten durchgesetzt. „Wir wollen nicht immer als Objekte und Empfänger betrachtet werden“, sagt Angel Pla Cisneros. „Wir sind auch Kämpfer.“

Javier Mena steht auf und senkt den Blick aus 1,85 Meter Höhe. Schmerzen habe er keine. Nur wenn es kalt ist, tun ihm die Knochen weh. „Wir haben hier keine Probleme mit Diskriminierung. Wir werden mit Priorität behandelt, haben einen besonderen Ausweis, damit wir im Bus sitzen können und nicht Schlange stehen müssen.“ Javier kann stehen. Und laufen. „Man muss die Straßen kennen“, sagt er. „Ich falle nie hin.“

KARIN CEBALLOS BETANCUR, Jahrgang 1972, lebt als freie Journalistin in Frankfurt/Main