Kinder in den Zauberwald

Mit ihrer Mischung aus Märchen und aktuellen Themen sind die Kinder- und Jugendbücher der anthroposophischen Schwesterverlage Urachhaus und Freies Geistesleben ungebrochen erfolgreich

von KARIN HAHN

Anthroposophen sind eine Klasse für sich. Fast scheinen sie eine etwas eigentümliche Sekte zu sein, die dem Fortschritt kritisch gegenüber steht, in der viele Familien noch keinen Fernseher geschweige einen Computer haben und die im selbstgestrickten Wollpullover auf der Couch sitzen, einen Müsliriegel aus ökologischem Anbau kauen und über Gott und die Welt philosophieren. Ein Leben, das für die handybewaffnete Internetgesellschaft ein Gräuel ist, von dem man sicher jedoch jeder mal träumt, weil es so einfach und altmodisch ist. Vielleicht ist das das Geheimnis, warum die Kinder- und Jugendbücher der anthroposophischen Schwesterverlage Urachhaus und Verlag Freies Geisterleben so erfolgreich sind.

Diese Bücher entführen die Kinder in eine andere Welt. Sie nehmen sie mit auf eine Reise durch die Geschichte, berichten von dem Leben in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nehmen sie mit zu den Rittern oder führen sie durch einen Zauberwald. Nur selten werden sie mit aktuellen Problemen wie Drogenmissbrauch oder Rassendiskriminierung konfrontiert.

„Wir leben stärker als viele Verlage von der Backlist“, so der Verleger Frank Berger vom Stuttgarter Urachhaus-Verlag, „bis zu 80 Prozent unseres Umsatzes machen wir mit ihr. Darum beneiden uns viele Verlage. Denn das übliche Novitätenkarusell bedient nur kurze Zyklen; nach einem halben Jahr ist ein Titel vergessen, soll möglichst verkauft sein.“ Zwar spürt sein Verlag auf dem Kinder- und Jugendbuchsektor auch sehr deutlich den Verdrängungswettbewerb und die schnelle Alterung der Titel. Er fährt jedoch bewusst ein Programm, das zwischen Märchen und Büchern mit aktuellen Themenbezügen liegt.

In Pete Johnsons „Infames Spiel“ wird Greg das Opfer von Neil und seiner Bande, die ihre Mitschüler terrorisieren und einschüchtern. Greg zu Hilfe eilt die Antigewaltgruppe von Josh. Sie sind angetreten, um den Krawallbrüdern den Kampf anzusagen, notfalls mit Gewalt und miesen Tricks. Bald drehen die Verhältnisse sich um, aus den Guten werden die Bösen, aus den Opfern die Täter. Was ursprünglich als Verteidigung gedacht war, endet in Unterdrückung. Pete Johnson zeigt aber auch, unter welchen Verhältnissen Neil und Josh aufwachsen und den Lesern wird klar, dass die Unterschiede zwischen den beiden so groß nicht sind. Die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gut und Böse verlieren ihre Konturen, und die jugendlichen Leser erhalten genug Ansatzpunkte über das Thema Gewalt nachzudenken.

Der Verlag Freies Geistesleben (www.geistesleben.com) setzt dagegen voll auf die Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Mit der Neuauflage von Jakob Streits „Kindheitslegenden“ und „Unsichtbare Wächter“ sind wieder zwei vergriffene Bücher aus dem Werk des 1910 in der Schweiz geborenen Schriftstellers lieferbar. Streit beschäftigt sich in vielen seiner Büchern mit biblischen Themen, die er für Kinder aufgearbeit hat. In den Kindheitslegenden für junge Leser ab acht Jahren erzählt er Motive aus der Kindheit und Jugend von Jesu, die von Assja Turgenieff passend illustriert wurde.

An die etwas älteren Leser, ab 12 Jahre, richtet sich der französische Klassiker „Das Land, in dem man nie ankommt“ von André Dhôtel. Der 1900 in den Ardennen geborene Schriftsteller gilt als der französische Charles Dickens. In diesem Roman erzählt er die Geschichte von Gaspard Fontarelle, einem Jungen, der bei seiner Tante in einem kleinen Dorf in den Ardennen aufwächst. Dorthin haben ihn seine Eltern, sie sind Schausteller, gegeben, damit ihm das Rumreisen erspart bleibt. Zunächst verläuft sein Leben auch in geordneten Bahnen, bis er auf einen Ausreißer trifft und mit ihm in die Welt hinaus zieht. Faszinierend an dem Buch sind Dhôtels Landschaftsbeschreibungen, die das Buch aus der Kinder- und Jugendbuchliteratur herausheben.

Noch keine Klassiker, aber auf den besten Weg welche zu werden, ist der Roman „Victor“ und das Bilderbuch „Der wilde Junge“ von Mordicai Gerstein. Sie erzählen die Geschichte eines wilden Kindes, eines Wolfsjungen, das kurz nach der Französischen Revolution in Südfrankreich gefangen wird. Der Arzt Itard versuchtden Jungen zu erziehen. Inspiriert zu dem Buch wurde Gerstein durch einen Film von François Truffaut. Viele Jahre hat er sich mit dem Thema beschäftigt. Heraus gekommen ist ein Buch über die Grenzen und Möglichkeiten von Erziehung: in diesem Jahr nominiert für den deutschen Jugendbuchpreis.