Der Heimkehrer

aus Tübingen PHILIPP MAUSSHARDT

Touristen, die Prag im vergangenen Jahrzehnt mit der Bahn besuchten, können sich bisweilen an jenen weißhaarigen, bärtigen Mann erinnern, der ihnen am Bahnhof billige Zimmer für zehn Mark die Nacht anbot. Meist musterte er seine Kunden schon von weitem. Manchmal drehte er sich abrupt ab und verschwand. Einmal glaubte eine Gruppe Schüler aus dem schwäbischen Tübingen, sie habe in jenem Kauz den ehemaligen Studentenführer Ali Schmeißner wiedererkannt. Bevor sie ihn ansprechen konnten, war der Mann verschwunden. Die Schüler hatten Recht.

Albrecht (Ali) Schmeißner, als linker Revoluzzer 1968 auf den Barrikaden und als Taufpate bei der Parteigründung der „Grünen“ mit dabei, lebte seit 1990 – von der deutschen Polizei per Haftbefehl gesucht – in Prag. Zehn Jahre lang hielt sich Ali Schmeißner versteckt, wechselte immer wieder sein Zimmer und hatte ständig Angst, irgendein alter Bekannter könnte ihn enttarnen. Denn zu Hause wartete eine lange Haftstrafe auf Schmeißner. Er hatte aus der Kasse des Studentenwerks über eine halbe Million Mark unterschlagen und an den Roulettetischen von Baden-Baden verspielt. Nun, mit 54 Jahren, kehrte Ali Schmeißner nach Tübingen zurück. Ausgezehrt und abgebrannt. Die Tat ist verjährt.

Schmeißner dreht sich mit „Schwarzer Krauser“-Tabak die vierte Zigarette innerhalb einer halben Stunde und schaut, während er spricht, immer wieder zur Tür. Jeder Gast, der an diesem frühen Nachmittag die Kneipe in der Tübinger Altstadt betritt, wird in Sekundenschnelle abgecheckt: Kennt mich, kennt mich nicht. Die meisten kennen ihn nicht. Nicht mehr. Die Haare sind kürzer, dünner und weißer geworden, die Falten im Gesicht verdeckt ein langer, ungepflegter Bart. Er macht lange Pausen beim Sprechen: „Ich bin es nicht mehr gewohnt, schlagfertig zu antworten“, entschuldigt er sich.

Wenn Ali Schmeißner einmal etwas war, dann schlagfertig: Was Rudi Dutschke in Berlin, war Schmeißner in der Studentenhochburg Tübingen. Von hier aus organisierte er in Süddeutschland in den 60er- und 70er-Jahren den Straßenprotest der Außerparlamentarischen Oppositon (APO). Stürmte, immer an der Spitze, die Hörsäle und schwang sich als Erster auf jedes Rednerpodest: „Holt die Kohlen von den Monopolen!“ Als Vertreter der äußersten Linken wurde er 1981 in den Bundesvorstand der „Grünen“ gewählt – zum Schrecken der Realos. Wolf-Dieter Hasenclever, damals grünes Aushängeschild im Südwesten, gab seinetwegen entnervt alle Parteiämter zurück und stieg aus der Politik aus. „Schmeißner vertrat eine Richtung bei den Grünen, die ich nicht mittragen wollte“, erinnert sich Hasenclever, der heute als Manager einer Beratungsgesellschaft in Berlin lebt. Schließlich hat der junge Fritz Kuhn (jetzt Parteisprecher der Grünen) den Ober-Fundi kalt gestellt.

Die Studenten aber hielten damals zu ihrem Wortführer und beriefen Schmeißner zum Geschäftsführer des gemeinnützigen „Studentenwerk e. V.“. Ausgerechnet aus der Kasse des Vereins holte Schmeißner dann tatsächlich die „Kohlen“: Rund 630.000 Mark fielen seiner Spielsucht zum Opfer.

Denn in fast jeder Nacht wechselte der Aufrührer seine Kleider: Zog die Jeans aus und Krawatte und Jacket an und ließ sich mit dem Taxi quer durch den Schwarzwald ins noble Casino von Baden-Baden chauffieren. Dort verzockte er das Geld, das den Studenten gehörte. Bis der Schwindel aufflog: Schmeißner wurde in dritter Instanz vom Oberlandesgericht Stuttgart zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Ohne Bewährung.

Am 2. Juli 1990, dem Tag des angeordneten Haftantritts in der Justizvollzugsanstalt Stammheim, verließ Ali Schmeißner seine Wohnung mit einem Koffer und ging zum Bahnhof. Doch anstatt nach Stuttgart löste er eine Fahrkarte nach Italien. „Die Vorstellung, für eine so lange Zeit ins Gefängnis zu müssen, hat mich wahnsinnig bedrückt.“

Auf seiner Odyssee durch Süd- und Osteuropa strandete Schmeißner schließlich abgebrannt in Prag, wo er glaubte, noch Spuren des „Prager Frühlings“ zu finden. Was er fand, war Prager Herbst. „Ich lebte am unteren Rand der Gesellschaft, die Menschen, mit denen ich Kontakt hatte, interessierten sich nicht für Politik.“

Zehn Jahre am Rande der Obdachlosigkeit: Mit seinem Köfferchen zog Schmeißner von Bekanntem zu Bekanntem und hielt sich mit den wenigen tschechischen Kronen, die ihm die Zimmervermieter für einen angeschleiften Touristen als Provision gaben, in Billigkneipen über Wasser beziehungsweise Bier. Den wenigen Menschen, mit denen er mehr als nur Kneipengespräche führte, log er vor: Er sei Professor aus Deutschland und beobachte in Prag den Wandlungsprozess vom Sozialismus zum Kapitalismus. Irgendwie stimmte das ja auch.

Manchmal kann er über seine Erlebnisse schon wieder lachen: „Die tschechische Polizei hat mich einmal betrunken aufgegriffen und mir meinen Geldbeutel gestohlen.“ Schmeißner hält sich beim Lachen die Hand vor den Mund, denn die oberen Vorderzähne sind nur noch Trümmer. Taxifahrer haben sie ihm eines Nachts eingeschlagen, weil er ihnen am Bahnhof mit seiner Masche das Geschäft mit Touristen vermasselte.

Am Schluss hat Schmeißner die Tage gezählt – wie ein Bundeswehrsoldat kurz vor seiner Entlassung. Noch drei, noch zwei, noch einer. Als die Tat endlich verjährt war, ging er über die Grenze, wo seine Schwester schon auf ihn wartete. Sie fuhr den verlorenen Sohn zur 92-jährigen Mutter nach Tübingen.

Zehn Jahre untertauchen, anstatt – bei guter Führung – nach eineinhalb Jahren Gefängnis wieder freigelassen zu werden: Schmeißner hält den Preis nicht für zu hoch. „Sie hätten mich als Intellektuellen im Knast doch nur vorgeführt. Dem zeigen wir mal, was Theorie ist!“

Er wollte sich nicht entwürdigen lassen und hat sich doch selbst entwürdigt: Als Schnorrer in Prag, der sich mal ein Bier, mal ein Essen bezahlen lässt und immer darauf wartet, ob von seiner Mutter wieder ein Geldbriefchen postlagernd eingetroffen ist. Der APO-Opa war ganz unten. Und obwohl ein neues Leben führ ihn beginnen kann, schaut er nicht fröhlich aus den wachen Augen.

Selbstmitleid zeigt er nicht, dafür zeigen diejenigen ihre Gefühle, die hier geblieben sind: In dieser schwäbischen Provinzstadt, wo zwischen Stiftskirche und Neckarbrücke, Hölderlinturm und Mensa jeder jeden kennt. Ein merkwürdiges Gemisch aus Mitleid, Hochachtung vor seiner gelungenen Flucht und Wut über die entgangene Strafe schlägt dem Wortführer von einst entgegen. „Komisch“, sagt er, „gerade die, die ich politisch am heftigsten bekämpft habe, sind heute am freundlichsten zu mir.“

Er ist Realist: 54 Jahre alt, keine abgeschlossene Berufsausbildung, den Gerichtsvollzieher im Nacken, habe er „wohl schlechte Aussichten auf einen Job.“ Nach Mama war erst das Arbeitsamt, dann das Sozialamt eine seiner Anlaufadressen. Aus den Mitstreitern von einst sind Minister und Manager geworden. Trotzig sagt Schmeißner: „Ich bin Marxist geblieben.“ Den größten Teil (360.000 Mark) des unterschlagenen Geldes hat Schmeißner schon vor Jahren durch eine Erbvorauszahlung seiner Mutter zurückbezahlt. Doch für den Rest kann er nicht mehr aufkommen. Die mitleidigen bis hämischen Blicke, die den alt gewordenen Mann beim Gang durch die Tübinger Altstadt verfolgen, setzen ihm zu. „Vielleicht gehe ich bald wieder zurück nach Prag“, sinniert er, „ich kann ja jetzt meinen Freunden dort die Wahrheit erzählen.“

Dann fällt ihm doch noch etwas ein, wie er vielleicht etwas Geld verdienen könnte. „Ich bin zehn Jahre lang durch Prag gelaufen. Es gibt nur wenige, die diese Stadt so gut kennen wie ich. Ich könnte einen Reiseführer schreiben.“