Ein Tag im Leben für Chris Marker

Den Essayisten und seinen jüngsten Film würdigt heute das Metropolis  ■ Von Tobias Nagl

„Prototyp des Menschen des 21. Jahrhunderts“ nannte Alain Resnais seinen Freund Chris Marker einst. Seine Unzeitgemäßheit hat dem Résistance-Kämpfer, Pianisten, Fotografen, Kommunisten, Romancier, Bohemien und nicht zuletzt Dokumentarfilmer eine größere Bekanntheit verwehrt. Erst Terry Gilliams Blockbuster 12 Monkeys brachte den Begründer des Essayfilms und „notorischen Avant-gardisten“, so der Hamburger Kinoaktivist Thomas Tode, für einen kurzen Moment wieder ins Be-wusstsein der Kinogänger. Das Zeitreise-Epos entpuppte sich trotz Gilliams zickiger Jules-Vernes-Ästhetik und Dampfmaschinen-Nostalgie als relativ gelungenes Hollywood-Remake von Markers Foto-Film-Kleinod La Jetée (1963). Anders als Gilliam jedoch legte Marker die Paradoxien des Wunsches offen, in die Zeit der Kindheit und davor zurückzukehren: La Jetée reflektierte beispielhaft solche Time-Travel-Szenarien auf das Kinodispositiv selbst und bedient sich dabei einer noch heute halluzinatorischen Bildsprache.

Zugleich macht Markers Film exemplarisch deutlich, dass Kino gar nicht so sehr über die Bewegung zu definieren ist, sondern genauso über die zwischen den Bildern vergehende Zeit – eine Eigenschaft, die der französische Philosoph Gilles Deleuze im Übergang vom „Bewegungsbild“ zum „Zeitbild“ beschreibt – dem Hauptcharakteristikum der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden filmischen Moderne, des Kinos der falschen Anschlüsse und der rein visuellen oder akustischen Verkettungen. Marker bleibt einer der wichtigsten unter denjenigen Regisseuren, die die Ablösung vom Repräsentationskino betrieben haben.

Zur Präsentation eines neuen Buches über Chris Marker ist nun noch einmal einer seiner schönsten Filme zu sehen: Sans Soleil. Halb Briefroman, halb cineastische Meditation über Alfred Hitchcocks Vertigo, berichtet Marker darin von einer Reise nach Japan, von jugendlichen Breakdancern, seinem Lieblingsthema Katzen, frühen Computerspielen und diversen anderen Skurrilitäten. Zusammengehalten wird dieses horizontale Montagekino allein durch Markers einzigartig assoziative Kommentare und durch die stets wiederkehrende Fragestellung nach dem Verhältnis von Bild, Zeit und dem Taumel des Erinnerns und Vergessens.

Interessanter für Marker-Afficinados dürfte allerdings die Nachricht sein, dass dieser alte Mann der Avantgarde wieder einen Film gedreht hat. Nach Level Five hatte er 1996 angekündigt, mit der Filmerei sei jetzt endgültig Schluss – die Zukunft der visuellen Kultur gehöre den digitalen Medien. Ein Tag im Leben des Andrei Arsenewitsch ist der Erinnerung an Andrei Tarkowski gewidmet. Wenn Marker über ihn sagt, er sei bestimmt von Bildern, die andere Bilder heraufbeschwören, könnte er genauso seine eigene Ästhetik beschreiben.

Diese Geistesverwandschaft mag auch der Grund für die jahrelange Freundschaft zwischen dem französischen Marxisten und dem russischen Kino-Metaphysiker gewesen sein: In Ein Tag... kombiniert Marker Videoaufnahmen von den Dreharbeiten zu Opfer und Tarkowskis Totenbett mit einer ziemlich luziden, motivgeschichtlichen und stilistischen tour de force durch dessen Filme, die sich genauso dessen Naturmystik widmet wie der Frage, wann eine Totale zur Philosophie wird. Jeder müsse seinen eigenen Schlüssel zu Tarkowski finden, schließt Marker. Das ist richtig, aber auch ein bisschen banal. Genauso, wie jeder seinen Schlüssel zu Marker finden muss, wenn der sagt, Tarkowskis Werk finde zwischen „zwei Kindern und zwei Bäumen“ statt. Denn ein Film von Chris Marker ist auch immer ein Film über Chris Marker.

heute: Sans Soleil, 17 Uhr; Ein Tag im Leben des Andrei Arsenewitsch, 21.15 Uhr, Metropolis

Natalie Binczek/Martin Rass (Hg.): ... sie wollen sein, was sie sind, nämlich Bilder. Anschlüsse an Chris Marker, 192 S., 58 Mark