Der Mensch als Wurm, Geisha und Etwas

■ Vor der Premiere in der Bremer Concordia wurde Urs Dietrichs „Every.Body“ am Samstag im Deutschen Pavillon der EXPO uraufge-führt. Dort erinnerte es die Welt, dass das Bremer Tanztheater Maßstäbe setzt(e), während Intendant Pierwoß um dessen Existenz bangt

„Viel zu dunkel“, maulen die JournalistInnen über die Pressefotos von Jörg Landsberg. „Es ist das Stück, das dunkel ist“, entschuldigen sich die Pressedamen. Die Ausstattungsreize des neuen Stücks des frisch gebackenen Leiters des Bremer Tanztheaters sind gleich null. Null Bühnenbild, null Requisiten (außer einem künstlichen Unterarm, der ganz kurz mal die menschliche Greifapparatur erweitert bzw. verwirrt), null Farbe. Die Kleidung ist schwarz – und trotzdem müssen sich die zehn TänzerInnen ziemlich oft umziehen: Auf die Details kommt es hier an, flatterige oder enge Kleidung, transparent oder flauschig, kein Jacke wie Hose. Und wenn einer mit Taucherweste – natürlich schwarz – auf Plateausohlen daherstöckelt, lacht sogar der Laden. Auch bei der Musik verkneift sich Urs Dietrich postmodernen Mixed Pickles. Man beschränkt sich auf zeitgenössische Kammermusik – meist Streichquartette, die Königsgattung von Intimität und Komplexität, gelegentlich in der Tradition von minimal music. Oft patschen die Füße lauter als die Musik. Und dann fehlt da noch was: ein Thema, von einer Geschichte gar nicht zu sprechen. Da wandelte einer auf den Spuren von Malewitschs schwarzem Quadrat; da wollte einer wissen, ob dieses zwiespältige, stets fremdartige und gleichzeitig allzu vertraute Ding namens Körper alleine ein Stück tragen kann und bekam die Antwort: und ob es kann!

Mit so ein paar Körpern, ganz ohne sperriges Holz und Pappmaschee, lässt es sich vortrefflich reisen: Beileibe nicht der einzige Grund aus dem Klaus Pierwoß für die Präsentation des Bremer Theaters auf der EXPO ausgerechnet das Tanztheater erwählte. Der Tanz ist eben in Bremen die Sparte mit der leuchtendsten Historie: Johan Kresnik, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke – vier blinkende Sterne am Bremer Siffwolkenhimmel.

Und noch ein drittes Argument sprach für den Tanz, ermöglichte er doch Klaus Pierwoß seine obligatorische Schelte der Bremer Kulturverweser, mit der er seit einigen Jahren seine Wortbeiträge zu beschließen pflegt, so sicher wie das Amen den Gottesdienst.

Irgendjemand hat nämlich dem Bremer Intendanten gesteckt, dass der soeben hitzig beratene Kulturentwicklungsplan den Tod des Bremer Tanztheaters für das Jahr 2004 vorsieht. Zuzutrauen wäre es unseren New-economic-Vasallen ja. Schlich sich doch schon bei der Meuchelung des Tanzherbstes der böse Verdacht ein, dass da geistige Kleinbürger unter den neuen Tarnnamen „Effizienz“ und „Verschlankung“ ein uraltes Ziel verfolgen: endlich das zur Strecke bringen, was ihnen seit jeher fremd und suspekt war. Aber irgendwann wird einer der tausend Bremer Marketingexperten wohl doch noch begreifen, dass Bohner, Hoffmann & Co den Bremer Namen viel lauter in die große, weite Welt hinausjubelten als die ganze Latte notdürftig zusammengeschusterter Möchtegern-highlight-events.

Zurück zu „Every.Body“. Der Programmzettel erklärt, dass es um eine Untersuchung unseres Bewegungsapparates geht. Was schwer nach der diätisch-asketischen Strenge eines Gerhard Bohner klingt, arbeitet in Wahrheit mit dem ganzen, üppigen Fundus des modernen Tanztheaters. Die gewohnte Körpereinheit wird aufgebrochen. Etwa wenn die beiden Arme – sie gehören einer zweiten verdeckten Person – tschüss sagen und sich selbständig machen. Gruppen synchronisieren sich – bis eine Figur wieder den Ausbruch wagt. Tanzen zwei miteinander ist das Netz von Mit- und Gegeneinander, Imitation und Kontrapunkt, so dicht gestrickt wie eine Bachsche Fuge – und genauso sehr abstrakte Kunst. Denn so gut wie nie denkt man hier an psychologische/politische/soziologische Vorgänge im Alltag, draußen vor der Tür, und „o.T.“ wäre auch ein schöner Titel für dieses Stück. Und bei einem Witz, der von drei konkurrierenden Männerwaden „erzählt“ wird, merkt man erst richtig, wie ernst der Rest ist, ein schöner, angenehmer Ernst.

Obwohl sich Dietrich nur 65 Minuten Zeit gönnt, lässt er es langsam beginnen – und horizontal. Wie gliederlose Kriechwesen – Made, Robbe – arbeiten sich die Tänzer am Boden voran. In der Dunkelheit leuchten die nackten Fußsohlen wie goldene Augen oder Schwanzflossen. Und auch des weiteren befreit Dietrich den Menschen oft aus der Normalität seines Bewegungsapparats: Er wird Pinguin, Madonnenwesen oder Geisha, und manchmal sogar ein Etwas. Mal wird gehoppelt, wobei der Impuls aus den Fußgelenken kommt – und der Rest des Körpers weiß nichts davon. Mal scheinen in Daunendecken eingemümmelte Frauen über den Boden zu schweben. Oder drei Oberkörper addieren sich zu einer langsam sich vorwärtspirschenden Wurmfigur. Und oft schlummern gegensätzliche Energien in einer Bewegung: Stolz und Verklemmtheit, Zärtlichkeit und Härte. Die Energie und die Perfektion, mit der die TänzerInnen das realisieren, ringt allerstärkste Bewunderung ab. Da staunt man nicht schlecht, wenn nach dem Stück im Foyer manche von ihnen eher mehlprimelig wirken. Was am Ende bleibt, ist der Beweis, dass ein schwarzes Quadrat überaus spannend sein kann.

Zum U-lastigen Programm der Bremer EXPO-Länderwoche, das von einer Bremer Werbeagentur erarbeitet wurde, meinte Peter Baumgardt, der Chef des Kulturprogramms des Deutschen Pavillon: „Es war gut besucht und es ist gut angekommen. Aber unsere anspruchsvolleren Programme mit insgesamt 127 Uraufführungen waren ebenfalls gut besucht und sind ebenfalls gut angekommen. Ich hätte mir schon sehr gewünscht, dass das Bremer Programm ein wenig mutiger ausgefallen wäre.“ bk

Im Concordia am 3.(Premiere), 5., 8., 10., 18., 23., 25. November um 20h