Eichenmassaker an der Oder

Erst hat die Jahrtausendflut die Deiche der Oder fortgeschwemmt. Jetzt drohen den hundertjährigen Eichen entlang der Oder die Kettensägen der Planer. Sie sollen dem neuen Deich zum Opfer fallen

von GUNDA SCHWANTJE

Regenwasser tropft aus Haaren, weicht Jacken auf, läuft in Schuhe. Aber die Leute rühren sich nicht. Etwa fünfzig Menschen, Jugendliche, Familienväter, ältere Frauen, harren an diesem Septembersonntag seit gut einer Stunde im Regen aus und wollen sich nicht rühren. Sie haben sich mit Seilen und Ketten an die hundertjährigen Eichen, Eschen und Ahorne am Oderdeich festgeschnallt, um gegen die Kahlschlagsanierung des Landes Brandenburg zu protestieren. Ein stiller, symbolischer Widerstand – heute wird hier keiner mit Kettensägen anrücken.

„Rettet die Baumallee“ heißt es auf einem Plakat an dem Baum, an dem sich Ulrich Lindow festgezurrt hat. Der Mann aus Reitwein, einem Ort wenige Kilometer nördlich von Frankfurt (Oder), lebt gleich hinter dem Deich. Angeschnallt an seinem Stamm, sagt er: „Ich sehe überhaupt nicht ein, warum diese Bäume fallen sollen.“

Bei der Sanierung eines Deiches stören Bäume offenbar. In den ursprünglichen Plänen des Potsdamer Landesumweltamtes von 1998 zur Rekonstruktion des Oderdeiches zumindest kommen Bäume nicht mehr vor. Die „Jahrtausendflut“ vom Sommer 1997, als große Flächen Westpolens unter Wasser standen und die Deiche an vielen Stellen südlich von Frankfurt (Oder) unter dem Druck der Wassermassen zusammenbrachen, hat nach Meinung der Deichbauer eine „moderne“ Sanierung erforderlich gemacht. Und Bäume gehören nach der DIN-Norm 19712 nicht auf einen modernen Deich.

Für die Rekonstruktion des Oderdeiches auf dem 162 Kilometer langen Flussabschnitt in Brandenburg wählte man daher 1998 zunächst die radikale Variante. Und das bedeutete Kahlschlag für die etwa 900 landschaftsprägenden alten Eichen, Eschen und Ahorne auf dem Abschnitt zwischen Bleyen und Reitwein, einer Strecke von elf Kilometern. 230 Millionen Mark haben die EU und der Bund für die Aufrüstung des bei der Flut ramponierten Deiches bereitgestellt. Befristet. Bis zum 30. Juni 2002 muss das Geld verbaut sein.

Natürlich will keiner, der hier lebt, dass sein Haus bis zum Dachfirst in Flusswasser versinkt. Die Menschen hinter dem Deich wissen, dass ihre Existenz auf Kies und Sand gebaut ist. Dort, wo das Oderbruch um Meter unter dem Flusswasserspiegel liegt, stehen die Anwohner mit sorgenvoller Miene an ihrem Schutzwall, wann immer die Oder zum Binnenmeer geschwollen ist und ihnen zeigen will, wer der Stärkere ist. Niemals, seit der Pegelstand gemessen wird, hat die Oder so viel Wasser geführt wie in jenem August 1997.

In der Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder) brach der Deich und setzte gleich mehrere Ortschaften komplett unter Wasser. Auch zwischen Lebus und Hohensaaten, wo an die 20.000 Menschen leben, drohte der Fluss sein ursprüngliches Bett zu fluten, aus dem man ihn 250 Jahre zuvor herausgeholt hatte.

Die Notwendigkeit einer Deichsanierung bestreitet nach der wochenlangen Angstpartie vom Sommer 1997 im Oderbruch niemand. Auch Karl Friedrich Tietz nicht, der Bürgermeister von Reitwein. Im Zuge der Rekonstruktion jedoch ausgerechnet die landseitig am Deich stehende Baumreihe abzuhacken, macht ihm keinen Sinn. „Diese Bäume sind Tiefwurzler, sie bilden ein stabiles Geflecht und halten den Deich doch erst zusammen“, erzählt der gebürtige Reitweiner, der an diesem regnerischen Sonntag von Baum zu Baum geht und die Angeschnallten begrüßt. „Während der Jahrtausendflut, als die Oder wochenlang am Deich stand, ist an den baumbestandenen Stellen kein Wasser ausgetreten.“

Nicht die erste Protestaktion

Die Protestaktion am Deich ist nicht die erste ihrer Art. Im Frühjahr 1999 schlossen sich Bewohner mehrerer Oderbruchdörfer zusammen und gründeten eine Bürgerinitiative zur Rettung der Bäume. In kurzer Zeit sammelte die BI 7.000 Unterschriften. Menschen aus dem Hinterland des Flusses, bislang mit Formen bürgerlichen Ungehorsams nicht vertraut, übernahmen Baumpatenschaften, holten Rat bei Experten ein, protestierten regelmäßig am Deich und erhoben Einwendungen gegen die geplanten Baumaßnahmen.

Die Bürgerinitiative fordert eine umweltverträgliche Deichsanierung. Im Zeitalter technischer Machbarkeit müsse es eine Alternative gegeben, so die Position der BI, in der auch Reitweins Bürgermeister engagiert ist. Karl Friedrich Tietz misstraut allen radikalen Maßnahmen. Bereits im Februar 1998 schrieb er in einem Brief an das Landesumweltamt: „Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass Radikallösungen für das Gleichgewicht der Natur und somit für den Menschen nicht gut sind. Da wurde das Oderbruch leer geholzt, dann kamen die Sandstürme. Es folgten überhastete Pflanzungen mit schnelllebigen, aber eben nicht langlebigen Bäumen.“

In der ausladenden Krone einer Eiche hockt ein Mäusebussard und beäugt das Schwemmland. Nach einer Weile schwingt der Vogel sich hoch, spielt eine Weile mit den Windböen und verschwindet im Auenwald auf polnischer Seite. Das Oderbruch ist ein Paradies für Vögel: Störche, Kraniche, Milane, der Große Brachvogel haben sich hierher zurückgezogen – Arten, die durch die moderne Feldbewirtschaftung stark dezimiert worden sind. Die Allee oder vielmehr das, was davon übrig ist, ist Säule einer relativ unberührten Auenlandschaft.

In der Umweltverträglichkeitsstudie, die das Landesumweltamt Brandenburg für die Sanierung erstellt hat, heißt es, die Bäume seien „aus ornithologischer Sicht wertvoll. Mit dem Verlust der Baumreihe ist der Verlust von Brutplätzen und Ansitzwarten für die Vögel verbunden.“ Insgesamt handele es sich bei der Sanierung um „einen erheblichen Eingriff in das Landschaftsbild“.

Aus Sicht der Deichbauer ist ein Deich ein technisches Bauwerk und kein Biotop. Ein moderner Deich solle keine Hindernisse haben, Bäume könnten im Krisenfall den Abwurf von Sandsäcken behindern. Abgestorbene Wurzeln könnten bei Hochwasser Sickerkanäle bilden, ein Sturm könnte einzelne Bäume entwurzeln und ein Loch in den Deich reißen. Das wäre dann gefährlich, wenn zeitgleich Hochwasser am Deich stünde. So lauten die Argumente gegen die Bäume.

Auf der Suche nach einer alternativen Lösung für die Allee mit den über hundertjährigen Bäumen laufen im August letzten Jahres Matthias Freude, Präsident des Landesumweltamtes Brandenburg, und Vertreter der Bürgerinitiative den Deich ab. Dabei kommt heraus, dass wasserseitig Anschüttungen und der Einsatz von Spundwänden auf einem Abschnitt von gut sechs Kilometern denkbar und zu prüfen sind. Für rund vier Kilometer gibt es keine Lösung. In dem Glauben, dass zwei Drittel der Bäume dieses Deichabschnitts gerettet sind, fährt die BI ihre Aktivitäten zurück.

Flussaufwärts zwischen Reitwein und Lebus beginnt im Sommer 1999 die Aufrüstung des Deiches. 4.500 Gehölze, darunter auch einzelne Bäume, werden abgeholzt. Die gesetzlich festgelegten Ersatzpflanzungen sind bis heute nicht erfolgt. In den Deich eingearbeitet wird der so genannte Meyer-Damm. 14 Millionen Mark wurden während der Jahrtausendflut 1997 in einen von der Bevölkerung nach dem zuständigen Minister Meyer genannten Damm investiert und buchstäblich in den Sand gesetzt. Nördlich von Reitwein stand der Deich arg unter Druck.

Ein erheblicher Eingriff in die Landschaft

Da der Strom das Oderbruch auf 20 Kilometer Breite und 60 Kilometer Länge zu fluten drohte, waren Taten gefragt. Quer zum Deich gezogen sollte ein neuer Damm die Wassermassen stoppen. Wegen dieser Schräglage und der Bauzeit war der Meyer-Damm von Anfang an umstritten, und die Zweifler sollten Recht behalten. Der Schlafdeich – ohnehin erst im Herbst nach der Flut fertig gestellt – wurde nun vollständig abgetragen.

Im Herbst 1999 werden die Baumschützer erneut aktiv. Der für die Rodung bestimmte Abschnitt wird aus dem Gesamtkonzept herausgelöst und zur Planfeststellung ausgelegt. „Da es für die naturverträgliche Variante keine verbindliche Zusage gegeben hat, haben wir Einspruch gegen den Kahlschlag erhoben“, berichtet Karl Friedrich Tietz. Während des Erörtungstermins zur Planfeststellung im Februar 2000 in Golzow gibt Matthias Freude in einer Vorrede bekannt, dass auf einer Länge von 3,8 Kilometern die Bäume stehen bleiben können. Dort könne der Deich wasserseitig angeschüttet werden – eine Lösung, die keinen Pfennig mehr koste. Für 2,6 Kilometer der Allee gebe es keine praktikable Lösung, so der Präsident des Landesumweltamtes.

Bei dieser Anhörung wird auch klar, dass Hochwasserschutz in Brandenburg nur funktionieren kann, wenn bis zur Quelle Maßnahmen ergriffen werden. 500 Millionen US-Dollar hat die Weltbank nach der schlimmen Flut für die Fluss-Sanierung in Polen in Aussicht gestellt. Dass die Verengung von Flüssen keine gute Idee war, hat sich inzwischen herumgesprochen. Heute wird das Motto ausgegeben, den Flüssen wieder ihren Lauf zu lassen. Im oberen Flusslauf soll der Deich zurückverlegt werden, so dass sich der Strom bei Hochwasser wieder ausbreiten kann.

259 Bäume der alten Allee sind inzwischen unter die Säge gekommen. Durch wasserseitige Vorschüttungen können gut 300 alten Eschen, Eichen und Ahorne gerettet werden – vorbehaltlich der endgültigen Planfeststellung durch die Obere Wasserbaubehörde. Auf knapp drei Kilometern könnten Spundwände die Stabilität des Deiches gewährleisten. Diese Variante wurde in Golzow Ende September 2000 während eines weiteren Einwendungstermins vorgestellt. Das würde 174 Bäume vor der Abholzung bewahren, aber mehr kosten als die Standardlösung. Auch für einen weiteren Kilometer mit 75 Bäumen ist eine Spundwand als Lösung denkbar. Aber auch hier geht es ums Geld. Was ist der Erhalt dieser einzigartigen Baumreihe auf dem Oderdeich wert?

„Hätten wir nichts gemacht, die Allee wäre längst abgeholzt“, sagt Ulrich Lindow, der wie Bürgermeister Tietz und die anderen Demonstranten Seile und Ketten einzieht. Sie versammeln sich zu einer Schlusskundgebung. Den Schriftzug „Rettet die Baumallee“ auf dem Plakat an Lindows Baum hat der Regen unkenntlich gemacht.