Leben mit Gleichgesinnten

■ 19 geistig behinderte Menschen beziehen heute ihr neues Zuhause im „Haus am Werdersee“ / Den Eltern fällt die Trennung von ihren erwachsenen Kindern schwer

Vor einem guten Jahr feierte der Martinsclub Bremen den ersten Spatenstich für die erste eigene Wohneinrichtung für geistig behinderte Menschen. Sozialsenatorin Hilde Adolf und Bürgermeister Henning Scherf (beide SPD) griffen wie immer medienwirksam zum Spaten und machten nach vierjähriger Planungszeit den Anfang für das „Haus am Werdersee“. Morgen ziehen nun die ersten der insgesamt 19 BewohnerInnen in den knapp drei Millionen Mark teuren Bau am Werdersee ein.

Einer davon ist Marc Köster. Er ist 28 Jahre alt und arbeitet in der Werkstatt für Behinderte im Buntentorsteinweg. Obwohl er tagsüber weg ist, hat seine Mutter für ihn ein Haus mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung ausgesucht, denn Marc ist geistig behindert, kann keine vollständigen Sätze sprechen und nicht mit Geld umgehen. „Ich würde es nicht zulassen, dass er in einer Wohngemeinschaft lebt und nur ein Mal am Tag jemand vorbeiguckt“, sagt Mutter Johanna Köster.

Schweren Herzens hat sie sich dazu entschieden, Marc fürs „Haus am Werdersee“ anzumelden. Den Anfang zu machen und im Martins-club anzurufen, das war das Schwierigste, erzählt sie. Ihr Gefühl habe immer „Nein“ gesagt, „du kannst ihn nicht anderen überlassen“ – aber im Kopf tönte es: „Es muss sein.“ Schon Eltern nicht behinderter Kinder haben oft große Schwierigkeiten, den Nachwuchs mit 18 Jahren aus der elterlichen Wohnung ausziehen zu lassen. Noch schwerer haben es allerdings Eltern geistig behinderter Kinder. Oft verlassen diese erst ihr gewohntes Zuhause, wenn die Eltern schon im Pensionsalter sind und die Betreuung nicht mehr übernehmen können. Und so liegt auch der Altersdurchschnitt der heutigen Umzügler bei 40 Jahren.

Die 50-jährige Johanna Köster hat sich somit vergleichsweise früh dafür entschieden, für ihren 28 Jahre alten Sohn Marc eine eigene Wohnmöglichkeit zu suchen. Der plötzliche Tod ihres Mannes vor drei Jahren hat sie aufgerüttelt: „Es kann mir ja auch was passieren. Mein Mann war 49 Jahre alt und nie krank. Was ist dann mit Marc?“, fragt sie. Auf die Frage, ob es schwieriger sei, sich von einem behinderten Kind zu trennen als von einem gesunden, antwortet Johanna Köster mit einem klaren „Ja“. „Weil man immer die Fürsorge spürt, weil er ja nicht alles selber machen kann.“ Die Trennung von Sohn Stephan sei auch nicht einfach gewesen. Das Letzte, was der mitgenommen habe, waren die Hausschuhe. „Da wussten wir, das war's jetzt.“ Aber bei Marc sei das schon noch etwas anderes.

Beruhigend ist für Johanna Kös-ter, dass sie, ihr Sohn Stephan und Marc auch in Zukunft in der Nähe voneinander wohnen werden. Eigentlich sei es für Marc auch wichtig, nicht nur mit seiner Mutter zusammen zu sein, gibt die 50-jährige Altenpflegerin zu bedenken. Einmal im Jahr fahre Marc mit Gleichgesinnten in den Urlaub – immer käme er freudestrahlend zurück.

Dass die Trennung für Eltern und Kinder leichter wird, darum bemüht sich der Martinsclub seit einem halben Jahr. Seitdem treffen sich die 19 zukünftigen BewohnerInnen des Hauses am Werdersee. Gemeinsam beschäftigten sie sich mit den Fragen: Wie möchte ich wohnen? Wie ist das Leben in vergleichbaren Häusern? Welches Zimmer möchte ich gerne haben? Eltern besprachen ihre Hoffnungen und Ängste und besichtigten mehrmals gemeinsam die Baustelle. Ein Angebot, das von den Trägern solcher Häuser, wenn überhaupt, nur selten bereitgestellt wird.

Marc Köster schaute allerdings in den letzten Wochen beinahe jeden Tag an seinem neuen Zuhause vorbei. Bei den Besuchen stand ihm die Freude immer ins Gesicht geschrieben. Eine zwiespältige Situation für seine Mutter: „Klar ist das schön, dass er sich freut“, sagt sie. Aber die Vorfreude sei so groß, dass es schon weh tue. „Hoffentlich bleibt das so“, schiebt sie mit leicht gekrauster Stirn und fragendem Blick hinterher.

Beate Hinkel