Multikulti Mittelalter

■ Nach der Rückeroberung durch die Spanier ging 1492 die maurische Kultur in Andalusien unter. Der Chorleiter Hartmut Emig lässt sie wieder aufleben

Der Chorleiter Hartmut Emig von der Kulturwerkstatt Westend ist dafür bekannt, dass er sich in seinen Projekten immer Außenseitern widmet. Oft betritt er nach umfangreichen Ausgrabungen und Recherchen musikalisches Neuland. Für sein neues Projekt „Das Erbe von al-Andalus“ hat er sich eine einzigartige Epoche europäischer Kulturgeschichte vorgenommen. Emig, der Westendprojektchor und ein Vokalensemble sowie über ein Dutzend weitere klassisch ausgebildete MusikerInnen und Bremer JazzerInnen erinnern an die Blüte und den Verfall der maurischen Kultur in der südspanischen Provinz Andalusien, die vielen UrlauberInnen über die Baukunst durchaus bekannt ist.

Seit 711 die Araber Südspanien eroberten, entwickelte sich – weil die Muslime die jüdische und die christliche Religion als „Schrift“-Religionen anerkannten – zusammen mit den Christen und den Juden eine blühende Mischkultur, die erst mit der Eroberung Granadas 1492 abrupt beendet wurde: Die spanischen Könige wiesen alle Juden aus und orientierten sich in ihrem Kunstverständnis am übrigen Europa. Der taz verriet Hartmut Emig vor der heutigen Premiere, wie er bei dieser Rekonstruktion vorging.

taz: Herr Emig, welche Auswahl der Musik haben Sie aus welchen Gründen getroffen?

Hartmut Emig: Wir stellen uns vor, dass jemand 1500, also acht Jahre nach dem Fall von Granada, ein Konzert machen will und was er da noch vorfindet. Die arabischen Musiker sind noch da, das ganze Erbe ist noch in lebhaftester Erinnerung. Das spanische Barock hingegen erreicht ja dann europäische Dimensionen. Deswegen singen wir auch Ockghem, Obrecht und Josquin: Das war der akzeptierte und modische Stil.

Wo fanden Sie diese Lieder?

Es gibt verschiedene Quellen, aber vor allem auch wissenschaftliche Untersuchungen. Eine Quelle sind die so genannten „Villancicos“, das sind weltliche, einfache, vierstimmige Lieder, die neue Mode der siegreichen Spanier. Es handelt sich um raffinierte poetische Texte, ihr Hauptvertreter war der 1468 geborene Juan del Encina. Es sind fantastische, zauberhafte Stücke, und kein Mensch kennt sie. Unsere zweite Säule ergibt sich aus der Suche nach den sephardischen Gesängen: Das ist die natürlich jüdische Musik der „Conversos“, die konvertiert in Spanien geblieben sind und die ersten Opfer der neuen Inquisition waren. Die Ausgewanderten haben ihre Kultur zum Beispiel in der Türkei weitergeführt. Aus beidem zusammen muss man rekonstruieren, weil es sich ja um mündliche Kultur handelte.

Welche Quellen haben Sie benutzt?

Hauptsächlich ein wissenschaftliches Buch: „Romana cantat“. Daraus geht hervor, wie stark das sephardische Arabisch war. Und dann natürlich Musikquellen, so das einzigartige „Cancionero de Palacio“ aus Madrid, das 551 Kompositionen umfasst.

Auf welchen Instrumenten spielen Sie?

Wir wollten auf jeden Fall eine moderne Auseinandersetzung mit dem Material. Die Elite der bremischen Jazzer macht mit, und wir übergeben bestimmte Strukturen an die Jazzer. Dann gibt's die Abteilung Alte Musik mit Chitarrone, Viola da gamba und einem Ut-Spieler aus Syrien.

Für den Hörer heute zeigt sich natürlich die Musik pur, er kann über sie kaum die sozialen Ereignisse und Spannungen nachvollziehen. Er kann auch nicht mehr die Funktionalität der Musik erkennen. Wie präsentieren Sie das in dem Projekt?

Alle Texte werden übersetzt. Und ich habe einen guten geschichtlichen Text. Den Rest muss das Publikum selbst machen. Es gibt ja auch ganz verschiedene Rezeptionsweisen. Ich biete viele Möglichkeiten an: Zum Beispiel auch dadurch, dass noch arabische Literatur gelesen wird und der Text eines arabischen Mystikers.

Wenn man bedenkt, dass diese Mischkultur in Andalusien über siebenhundert Jahre andauerte, dann kann man davon ausgehen, dass es nichts „Fremdes“ mehr gab, sondern dass das Fremde zum Gemeinsamen und Normalen gehörte. Wie muss man sich unter diesem Aspekt das Ausmaß der kulturellen Verarmung nach 1492 vorstellen?

Das war ja nicht nur kulturell, das war vor allem sozial. Die christlichen Ritter, die nicht das mindeste Interesse für die funktionierende und blühende Landwirtschaft hatten, zerstörten damals alles: Indem sie die Juden vertrieben, vertrieben sie den gesamten Mittelstand.

Sehen Sie Parallelen zu den heutigen Immigrationen?

Natürlich. Zwar wollten die christlichen Herrscher die sephardische Musik raushaben. Aber sie haben sie doch übernommen. Aus diesem Treffen entsteht etwas original Neues: Das ist ein aktuelles Problem. Fragen: usl

Konzerte am 2., 3. und 4. 11. um 20 Uhr in der Immanuelkapelle an der Elisabethstraße in Walle