„Irgendwie Gleichgewicht verloren“

Ein 25-jähriger Bauarbeiter steht vor dem Amtsgericht Tiergarten: Er soll einen polnischen Punk vor eine S-Bahn geworfen haben. Der 24-jährige Krystian W. verlor einen Arm und ein Bein. Die Anklage wirft Ronny K. lediglich Körperverletzung vor

von PHILIPP GESSLER

Rassistischer Mordversuch oder bloß eine Besoffenenschlägerei mit tragischen Folgen? Das ist die Frage, vor der die Abteilung 255 des Amtsgerichts Tiergarten seit Mittwoch vergangener Woche steht. Auch bei der gestrigen zweiten Sitzung des Gerichts blieb alles offen – nur die Folgen der Rangelei sind klar: Seit dem 26. Juli vergangenen Jahres fehlen dem polnischen Punk Krystian W. ein Arm und ein Bein.

Am Abend dieses Sommertages war es auf dem S-Bahnhof Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg zu einer Schlägerei zwischen Krystian W. und dem heute 25-jährigen Bauarbeiter Ronny K. gekommen. Dabei war der Punk auf die Gleise gefallen und von einer S-Bahn erfasst worden. Wochenlang lag er im Koma. Krystian W., heute 24 Jahre alt, trug schwere innere Verletzungen davon, ein Arm und ein Bein mussten amputiert werden.

Nun muss sich Ronny K. wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht verantworten. Die Punks, mit denen Krystian unterwegs war, werfen Ronny K. und zwei anderen Bauarbeitern vor, aus rassistischen Motiven die Prügelei begonnen zu haben. Ronny K. soll an einem Arm ein Hakenkreuz-Tattoo tragen. Dies geht nach Informationen von Krystian W.s Anwalt Stephan Werle aus den Gerichtsunterlagen hervor. Ronny K. bestreitet, den Streit angezettelt zu haben. Auch eine neonazistische Gesinnung will der Mann, der eine szenetypische Kurzhaarfrisur trägt, nicht haben.

Die Polizei hatte den Vorfall unmittelbar nach dem Geschehen so dargestellt: Die Punk-Clique habe auf dem Bahnsteig, „ohne Grund eine Gruppe von Bauarbeitern angepöbelt“. Die Handwerker aber seien nicht auf die Provokation der Punker eingegangen. „Einer der Männer zerrte einen Bauarbeiter am Hemd und geriet dabei immer näher an die Bahnsteigkante“, hieß es in der Polizeimeldung. „Als er den Mann losließ, verlor er das Gleichgewicht und stürzte vor den S-Bahn-Zug.“

Zumindest die Vorgeschichte des Geschehens sahen die Freunde Krystians ganz anders – grundlos sei demnach die Rangelei keineswegs gewesen. Nach Angaben eines Punks sind sie schon eine Stunde vor der Prügelei in einer S-Bahn von der Bauarbeitergruppe heftig mit rassistischen Sprüchen provoziert worden. Sie seien als „Scheißzecken“ beschimpft worden, die sich „verpissen“ sollten. Einer habe gerufen: „Polackenpack hat in einer Bahn nichts zu suchen, in der ich auch bin.“

Als ein Schaffner „wegen des Gebrülls“ eingeschritten sei, hätten die Bauarbeiter den Waggon verlassen. Die weiterfahrenden Punks aber seien auf dem S-Bahnhof Greifswalder Straße wieder auf die Handwerker getroffen. Nach Angaben der Richterin haben unbeteiligte Zeugen, wie etwa Wachleute einer Sicherheitsfirma und eine S-Bahn-Angestellte, bestätigt, dass es dann Krystian W. gewesen sei, der auf Ronny K. losgegangen sei.

Nach der Erinnerung eines Freundes von Krystian haben sie nicht in den Kampf eingegriffen, „weil wir das für einen Kampf eins gegen eins hielten“. Wenige Meter vor den Gleisen habe ein Bauarbeiter Krystian W. mit einer Ratsche, einem Werkzeug für Gerüstbauer, geschlagen – worauf der Punk benommen auf die Gleise gestürzt sei.

Ein Bauarbeiterkumpel Ronnys betonte dagegen vor Gericht, sein Freund habe den Konflikt nicht gesucht. Krystian W. habe „irgendwie das Gleichgewicht verloren“. Was unmittelbar vor dem Sturz passiert sei, habe er nicht gesehen. Ronny K. selbst sagt, er habe nur die Attacken des Punks abzuwehren versucht – das Ganze sei „tragisch“ verlaufen. Krystian W. will beim nächsten Termin in einer Woche aussagen. Da der Punk obdachlos ist, war es bisher nicht möglich, ihn vor Gericht zu laden.

Um Krystian W. kümmern sich der „Polnische Sozialrat“ und Sozialarbeiter des „Karuna-Mobils am Alex“, eine Anlaufstelle für obdachlose Jugendliche. Krystian W. war nach dem Erwachen aus dem Koma in der Klinik aufgefordert worden, sich in Polen weiter behandeln zu lassen, berichten die Sozialarbeiter. Er war daraufhin untergetaucht und lebt seitdem bei Freunden in besetzten Häusern. Zwei Prothesen hat er erst in Frankreich von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ bekommen. In Deutschland habe er sich umsonst darum bemüht – ohne Krankenkasse keine Prothese.