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: HELMUT HÖGE über das Selbstmauern

Der Hang zur Homolabilität

Bis zur Wende gab es für die jungen autonomen Ghettoechsen nur SO 36. Der Politologe Czempiel schreibt – angesichts des immer mehr um sich greifenden Partisanenwesens à la Basken, Korsen, Kurden, Kosovaren, dem mit Waffengewalt partout nicht beizukommen ist: „Die Idee, dass ein Staat auch eine Nation darstellt, ist überholt und falsch. Was wir brauchen, ist die Idee des multinationalen Staates, das heißt ein Angebot großer Autonomie [. . .]. Wobei der Staat sich damit abfinden muss, dass sich selbständige politische Einheiten bilden.“ Dies geschieht auf Druck von unten, mit Hilfe interessierter Dritter. Die Alliierten haben bereits 1945 – von oben – das Modell „Westberlin“ beigesteuert.

Der Young Urban Partisan von heute wird in den USA vor allem ethnisch eingehegt – quasi von oben und von unten. In Berlin geht noch vieles durcheinander. So dass der Begriff der „Leitkultur“ – des CDU-Leitwolfs Merz – wahrscheinlich ein Rückzugseuphemismus ist. Es gibt nämlich bereits die ersten High-Tech-sicherheitsbestückten Reichenghettos – wie die Bismarcksche Golfplatzkolonie am Seddinsee, sozial betreute Altrussenghettos wie das der Russlanddeutschen in Marzahn, nordvietnamesische Community-Inseln wie die an der Rhinstraße, ghanaische Lebensschwerpunkte wie in einigen Straßen Neuköllns und japanische im schicken Dahlem-Zehlendorf. Gleichzeitig bilden sich aber auch die gleichsam ständischen Ghettos – von Künstlern, Wissenschaftlern, und Computerleuten – wieder neu beziehungsweise um. Lokal immer losgelöster operieren dagegen die evangelische „Brüdergemeinde“ und das buddhistische Kloster in Frohnau.

Neulich registrierte ich in einem Café am Arnimplatz in Prenzlauer Berg, dass alle Frauen, die dort saßen, Kindergärtnerinnen waren – sie wohnten auch alle in der Nähe. Später stieß ich in der näheren „Umwelt“ auf Unmengen von Kitas, Kinderläden, Geburtshäusern, Kindermuseen, und sogar eine Schulneugründung.

Auf der „anderen Seite“ der Stadt entdeckte eine Spiegel-Reporterin in der Kreuzberger Waldemarstraße, dass alle dort wohnenden Kurden aus ein und demselben Dorf stammen. Der Alevitenforscher Mildner hält so etwas für sinnvoll, weil nur durch solche Ableger das Dorf als Heimat vor Verkitschung „gerettet“ wird, also „überlebt“ – indem zum Beispiel bereits ein einziges Telefongespräch zwischen hier und dort in beiden Orten für eine umfassende Kommunikation sorgt. Die Waldemarstraße als Maggiwürfel von dem, was im Dorf geschieht – und natürlich auch umgekehrt.

Ähnlich sieht es in einigen Hochhäusern am Rande Moskaus aus, in denen die Funktion des „Dorfältesten“ wiedereingeführt wurde. Aber auch die Berufsberlinerszene an Ku’damm und Kempinski war noch sehr konservativ-hierarchisch – und nun hat sie sogar vollends „Kudorf“-Charakter angenommen: nähert sich dem an, was Lyotard in sein „Patchwork der Minderheiten“ aufnehmen würde, gleichzeitig bedrängt und deintegriert von den „Neuen Russen“ dortselbst.

In Potsdam mendelt sich derweil aus den „Ruinen“ des schwul-adligen Gardeinfantrieregiments und den dort stationierten Hetero-Einheiten der Roten Armee eine neureiche Camp-Kultur – zwischen Joop und Jauch, den Leihbeamten aus dem Ruhrgebiet und den Ost-Sozialdemokraten – heraus. Die Kriegsgewinnler in Berlin-Mitte signalisieren ihr Dasein einstweilen noch primär durch kleine Bäumchen auf ihren Penthäusern – in Kreuzberg werden sie inzwischen „Biosphärenreservate der Dachgeschosslumpen“.

Das Netz des Patchworks ist der pyramidalen Sozialorganisation überlegen, insofern hier die erkenntnisfördernde „Marginal Man Position“ – zwischen drinnen und draußen – greift. Sie war dazumal zuerst von jüdischen Osteuropa-Emigranten als Young Urban Partisans „genutzt“ worden.

Dann „erfanden“ meines Erachtens die jüdischen Ghettokämpfer die „Stadtguerilla“ – als Pendant zum Waldpartisanen mit Dorfbindung. Ich weiß nicht, ob es was bedeutet, aber die deutschen Ghettomauern in Osteuropa waren einst genauso hoch wie dann die kommunistische Selbst-Mauer um Westberlin.