Das Zünglein an der Wahlurne

Bush oder Gore? Aufwändig recherchieren amerikanische Journalisten, welchen Kandidaten sie ihren Lesern empfehlen sollen. Obschon weit unwichtiger als das Fernsehen, könnten diese so genannten „Endorsements“ der Zeitungen auch diesmal das Zünglein an der Waage sein

aus Washington PETER TAUTFEST

„Das ganze Verfahren dauert gut zwei Jahre“, sagt Rena Pederson. „Wir interviewen jeden Kandidaten, sehen uns sein bisheriges Wahlverhalten an, seine Artikel oder Reden, seine Positionspapiere, sein Geschäftsgebaren, seine Finanzen. Dann kommen wir in der Redaktion zusammen und machen eine Probewahl. Mit dem Ergebnis gehe ich zu unserem Verleger, der das letzte Wort hat“, sagte sie der taz. Rena Pederson leitet die Meinungsredaktion – die „editorial page“ – bei den Dallas Morning News und spricht von dem Prozess, in dem Kandidaten von ihrer Zeitung „indossiert“ werden.

„Endorsements“ heißen die Meinungsbekundungen amerikanischer Zeitungen zugunsten des einen oder anderen Kandidaten. Etwa 60 Prozent der amerikanischer Presse spricht Wahlempfehlungen aus. Bisher haben sich 118 Zeitungen für Bush ausgesprochen – darunter Dallas Morning News und Chicago Tribune, und 68 für Gore – darunter New York Times und Washington Post. Rena Pedersons Meinungsredakteure durchleuchten nicht nur die Bewerber um das Amt des Präsidenten, sondern auch hunderte von örtlichen Kandidaten vom Sheriff bis zum Schulrat, vom County Commissioner bis zum Bürgermeister. Für die lokalen Wahlkämpfe haben die Zeitungsempfehlungen mehr Gewicht als jene für die Kandidaten auf Bundesebene. „Wir sehen am Wahltag häufig Leute mit den Ausrissen aus ihren Zeitungen zu den Wahllokalen kommen“, zitierte die Fachzeitschrift Editor And Publisher einmal eine Wahlhelferin. In Kalifornien aber würden sich nur 5 Prozent der Wähler bei der Wahl des Präsidentschaftskandidaten von einer Empfehlung ihrer Zeitung beeinflussen lassen, ergab eine Umfrage vom Herbst dieses Jahres, 11 Prozent würden dem Rat ihrer Zeitung bei der Wahl von Abgeordneten und gar ein Viertel der Wähler bei der Wahl lokaler Mandatsträger folgen.

„Die Sitte des Indossierens geht auf die Anfänge der amerikanischen Republik zurück“, erklärte David Nord, Journalistikprofessor an der University of Indiana Bloomington. „Bei geringerer Bevölkerungsdichte als in Europa hatte das junge Amerika gut doppelt so viel Zeitungen. Viele Zeitungen wurden dabei von Druckereibesitzern herausgegeben, die das große Geld allerdings eher mit dem Drucken von amtlichen Mitteilungen verdienten. Politiker oder Parteien wurden unterstützt, wenn sie Patronage oder Druckaufträge gewährleisteten – weswegen die meisten Orte zwei Zeitungen hatten.“

Das hat sich geändert. Zeitungen gehören heute nicht mehr Individuen oder Familien, sondern großen Ketten wie Knight Ridder, Gannett und Scripps Howard. „Denen ist die politische Ausrichtung ihrer Zeitung meist egal“, so David Nord, „die interessieren sich nur für Profit.“

Entsprechend klaffen die Ausrichtung der Zeitungen und die ihrer Besitzer oder Verleger in letzter Zeit stärker auseinander. Während im Wahljahr 1996 fast die Hälfte der Zeitungsverleger für den damaligen Konkurrenten Clintons, Bob Dole, stimmten, sprachen sich nur 39 Prozent der Zeitungen des Landes für Dole aus. Endorsements kommen auf ganz unterschiedliche Weise zustande.

Nackey Loeb, die zugleich Chefredakteurin, Verlegerin und Besitzerin des Manchester Union Leader in New Hampshire ist, bestimmt weitgehend im Alleingang, wen die Zeitung unterstützt (1996 Patrick Buchanan von der Reformpartei, 2000 den Republikaner George W. Bush). Bei der Los Angeles Times bestimmte bis 1972 der Verleger eigenmächtig die Endorsements. Als der aber Nixon unterstützte, schalteten die Journalisten von der Meinungsredaktion eine Anzeige, um ihre abweichende Meinung zu veröffentlichen. Seitdem spricht die LA Times auf nationaler Ebene keine Endorsements mehr aus.

Als sich die Meinungsredakteure des Minneapolis Star Tribune 1980 nicht für einen der drei Kandidaten entscheiden konnten (Reagan, Carter, Anderson), bekam jeder Redakteur Raum für einen Essay. Alle Zeitungen betonen mit Nachdruck, dass sie überhaupt und beim Indossieren strikt auf die „Trennung von Staat und Kirche“ achten, womit im amerikanischen Journalistenjargon die Trennung von Meinungs- und Nachrichtenredaktion gemeint ist.

Leonard Downie, Chefredakteur der Nachrichtenredaktion bei der Washington Post, fühlte sich nach deren Endorsement für Al Gore gar bemüßigt, per Kolumne zu versichern, dass er selber nicht zur Wahl gehe, geschweige denn jemandem den Vorzug einräume.

Ob Zeitungen im Zeitalter des Fernsehens ihre Leserschaft überhaupt beeinflussen können? Bei der Meinungsbildung spielen nach Auskunft von Wählern, die Mitte September befragt wurden, die Zeitungen eine größere Rolle als die Sendeanstalten, aber eine geringere als die Kabelsender. 23 Prozent beziehen ihre Informationen in erster Linie aus Zeitungen, verglichen mit 25 Prozent aus Kabelsendern und nur 19 Prozent aus den großen Sendern wie ABC, CBS und NBC. Regelmäßige Zeitungsleser gehen eher zur Wahl als gelegentliche Leser. Und so glaubt der Meinungsforscher James Zogby auch, dass beim diesjährigen Kopf-an-Kopf-Rennen Endorsements eine entscheidende Rolle spielen werden.