Keine Angst vor schweren Steinen

Im Eingliederungsheim am Stadtpark haben ein Dutzend Blinde und Sehbehinderte ein halbes Jahr lang Steine geklopft. Wer noch sehend auf die Welt kam, hat zumindest ein „Bezugssystem“  ■ Von Gernot Knödler

Inge hat beim Schlagen eine riskante Technik entwickelt. Mit dem Daumen und den ersten beiden Fingern hält die blinde Erzieherin den Meißel ganz vorne, während die übrigen Finger Kontakt zum Stein halten. „Ich hab' mir schon öfter mal auf die Finger gehauen, weil ich gleichzeitig schlage und fühle“, sagt die grauhaarige Frau. Sie nimmt es nicht tragisch.

Bis auf einen blau unterlaufenen Nagel sind ihre feinen Finger zurzeit außerdem heil. Vielleicht weil das Bildhauer-Projekt im Hof des Blindenheims am Stadtpark schon seit Mai läuft. Mit einem Dutzend stark sehbehinderter bis blinder TeilnehmerInnen, überwiegend im Alter von 14 bis 16 Jahren, haben die Bildhauer Thomas Behrendt und Christel Langlotz den Sommer über Steine geklopft: halbzentnerschwere Klötze aus Thüster Kalkstein, aus denen inzwischen Saurier und Raumbasen geworden sind.

Eine Fahne feinen Staubes weht von Inges Schildkröte. Mit einer zentimeterbreiten messingfarbenen Feile glättet sie das linke hintere Bein ihres eleganten Geschöpfs. Gegen den feinen weißen Staub trägt sie eine Maske und eine rote Windjacke. Ihre Augen schützt eine Art Plastik-Taucherbrille mit schwarzem Rand.

Mit großem Eifer verfeinert die Erzieherin die Proportionen, und sie versucht, die Löcher wegzuschmirgeln, die beim Behauen des Steins entstanden sind. Angst vor der Arbeit mit dem schweren, widerspenstigen Material und dem scharfen Werkzeug hatte sie ebensowenig, wie die von ihr betreuten Jugendlichen. „Die legten los: tack, tack, tack, tack“, erinnert sich die Bildhauerin Christel Langlotz.

Die Werkzeuge – hölzerne Schlegel, Hämmer und Meißel aller Art – werden teils geschliffen, teils sind sie mit Wechselklingen versehen, so wie der Stockhammer, mit dem Dominik Zilian die Haut seines Saurierkopfes masert. Die quadratische Klinge des Hammers besteht aus einem Raster pyramidenförmiger Spitzen. Wenn Dominik damit senkrecht auf den Stein hämmert, entsteht ein Punktemus-ter aus lauter kleinen Löchern.

Der Saurier-Kopf, der in einer Sandkiste auf einem Baumstumpf ruht, sieht aus wie der des Tyrannosaurus Rex aus Jurassic Park: Die kantige Schnauze, die Augenwüls-te, der angedeutete Nackenkamm – alles ist perfekt proportioniert. Lediglich die spitzen Zähne fehlen noch, aber Dominik hat heute keinen richtig guten Tag. Wie erschlagen hängt er an diesem Tag über seiner Skulptur und lässt die Arme baumeln.

Nicht einmal die Möglichkeit, glänzende, richtig Furcht erregende Zähne zu gestalten, reißt ihn aus seiner Lethargie. Der Kalkstein bietet erstaunliche Möglichkeiten, wie der abgewandelte Januskopf von Sascha Vokuhl zeigt: Das dreieckige Gesicht mit dem gespenstisch aufgerissenen Mund ist links von einer rauhen und rechts von einer polierten Fläche eingerahmt. Samtig glatt steht sie für das Gute, wogegen die rauhe Fläche das Böse vertritt.

Während Dominik und Sascha mehr schlecht als recht sehen können, welche Formen sie aus den Steinen schlagen, muss Inge vollends ihr Gedächtnis bemühen. Bis zum Alter von sieben Jahren habe sie ganz normal sehen können, erzählt sie. Dann sei ihr Augenlicht allmählich verschwunden. Bei der Begrüßung streckt sie ihre Hand um Haaresbreite an der meinen vorbei.

Die Tatsache, dass sie mit Augenlicht auf die Welt gekommen ist, hilft ihr. Sie verfügt damit über ein Bezugssystem, das ihr die Orientierung im Raum erleichtert. „Das ist was ganz anderes, als wenn man geburtsblind ist“, versichert Inge und verfolgt mit den Händen den S-Schwung zwischen Schwanz und Kopf ihrer Schildkröte, der die Skulptur lebendig macht.

Die Erzieherin betreut die freiwilligen Nachmittagsaktivitäten der Eingliederungshilfe der Hamburger Blindenstiftung. Sie organisiert Töpferkurse und Ausflüge zur Erkundung der S-Bahn. Selbst einen Malkurs hat sie zusammen mit anderen Blinden schon einmal absolviert. „Es sind ja doch Vorstellungen da“, sagt sie, Vorstellungen, die mitgeteilt werden wollen. Dass sie ihre eigene Schöpfung nicht wahrnehmen kann, stört sie weniger, als das Unvermögen, die Bilder anderer zu sehen.

Um sich in die Blinden und Sehbehinderten hineinversetzen, versuchten die Bildhauer selbst, blind Steine zu behauen. „Man hat kein Gespür dafür, was weggeht vom Stein“, erzählt Behrendt. Doch auch ohne Sehsinn bleibt, was die Bildhauerei für ihn ausmacht: der meditative Charakter der Arbeit durch das rhythmische Schlagen und „dass Du mit allen Sinnen reingehen kannst“, wie Behrendt es ausdrückt: Die Kühle des Steins, das Klingen der Eisen und der mehlige Staub mit seinem stumpfen Geruch ermöglichen eine komplexe Erfahrung jenseits des Sehens.

Nach 21 Terminen sind die meis-ten der kleinen Plastiken fast fertig. Viel Arbeit dagegen brauchen noch die beiden mannshohen Steine, die die Gruppe zum Abschluss gemeinsam behauen sollte. Lediglich an einem der tonnenschweren Brocken sind die ersten hundert Schläge zu sehen. „Eigentlich müsste man jetzt so ein Projekt anfangen“, sagt Langlotz. Mit der selbstbewussten Gruppe von NeubildhauerInnen als Kristallisationspunkt könnte sich das Bildhauerprojekt dauerhaft etablieren.

Behrendt und Langlotz wollen die großen Steine auf jeden Fall fertig gestalten lassen und an einem öffentlichen Ort aufstellen. Bisher fehlt dafür allerdings noch Geld. Inge wird so oder so weiterklopfen. Ihre Schildkröte wird sie über den Winter mit nach Hause nehmen und dort das Kunstwerk vollenden.