auf der suche nach der deutschen leitkultur
: Eine Recherche der taz und des KulturRadios Lotte in Weimar*

„Deutsche Leitkultur ist ein bescheidenerer Begriff als deutsche Kultur“

Ernst Nolte, Historiker

Der Begriff der „deutschen Leitkultur“ hat weder etwas mit einem deutschen Führungsanspruch außerhalb Deutschlands zu tun, noch fungiert er in der Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation. Er schließt vielmehr die Hauptkennzeichen einer deutschen Zivilgesellschaft ein, ganz wie der Begriff der „civilisation française“ die Merkmale dessen aufweist, was von den Deutschen in einem engeren Sinne Kultur genannt wird.

Deutsche Leitkultur ist ein wesentlich bescheidenerer Begriff als derjenige der „deutschen Kultur“, wie er mindestens bis 1914 mit großer Selbstverständlichkeit verwendet wurde. Diese deutsche Kultur war als etwas Gemeinsames und in erster Linie natürlich als Sprache in allen unterschiedlichen Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens präsent, und als Hauptvertreter wurden in der Regel Kant und Goethe, Schiller und Hegel genannt. Von allen Minderheiten in Deutschland war keine dieser deutschen Kultur so zugetan wie die jüdische, die bis auf wenige Ausnahmen nichts lebhafter wünschte als die Assimilation.

Bescheidener als der Begriff der deutschen Kultur ist der der deutschen Leitkultur insofern, als er keinen Herrschafts-, sondern nur einen Führungs- und Koordinationsanspruch formuliert. Damit bedeutet er einen Schritt auf die multikulturelle Gesellschaft zu, welche gegenüber den europäischen Nationalstaaten eine umstürzende Veränderung impliziert.

Wenn der Begriff der Leitkultur jetzt teilweise als „Rassismus“ diffamiert wird, dann zweifellos in der Absicht, den Multikulturalismus zu fördern. Dessen heutige Anhänger aber streben in meinen Augen letzten Endes den „Einheitsmenschen“ einer einsprachigen „Weltfamilie“ an. Dass die Weltgeschichte durch eine machtvolle Tendenz zu größerer Gleichheit und Einheit der Individuen bestimmt ist, das war schon die These eines Konservativen wie Alexis de Tocqueville. Aber die Überwindung von Ungleichheiten bedeutet nicht eo ipso die Überwindung von Differenzen, welche dann im Gegenteil noch ausgeprägter hervortreten können und Reaktionen hervorrufen. Renaissancen nämlich waren nicht weniger wichtig als Umbrüche.

Die deutsche Kultur mit ihrem exzessiven Anspruch wird als solche gewiss nie wieder zurückkehren. Aber die deutsche Leitkultur mag sich in all ihrer Bescheidenheit zu einem recht kräftigen Gebilde entwickeln, zumal dann, wenn man sie mit simplizistischen Kampfbegriffen wie Rassismus attackiert.

* „Zuwanderer müssen sich der deutschen Leitkultur anpassen“ (Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion)