Sechs Millionen Zähler unterwegs

Die Chinesen wollen wissen, wie viele sie sind, weil sie im besten Fall wieder mehr Kinder kriegen dürfen. Doch die größte Volksvernehmung aller Zeiten stößt vor allem bei der Landbevölkerung auf großes Misstrauen und Angst vor Missbrauch

aus Peking GEORG BLUME

Abends um zehn klingelt in Peking die Volkszählerin. Gerade hat L. ihren achtjährigen Sohn ins Bett gebracht und sich aufs Sofa gelegt, da schreckt sie eine Dame mit klappernden Stöckelschuhen auf. L. ist zu müde, den späten Besucher abzuwehren. Die Dame entpuppt sich als Tochter der Verwalterin des Nachbarschaftskomitees – eines alten Drachen, dem L. jeden Morgen in unbehaglicher Erinnerung an alte Zeiten zuwinkt. Damals war man gewohnt, vor jeder Staatsgewalt zu ducken. Heute ist deren unterstes Organ, das Nachbarschaftkomitee, eine weitgehend ignorierte Instanz. Aber die Reflexe sind geblieben. L. ärgert sich. „Nein, das Familienbuch habe ich jetzt nicht zur Hand. Bitte kommen Sie morgen wieder.“ Schon will sie den ungebetenen Gast wieder zur Tür herausschieben.

Doch zu spät. Die Völkszählerin hat bereits mit ihrer Arbeit begonnen. Selbstständig füllt sie drei gelbliche Formulare aus, ohne L. weitere Fragen zu stellen. Dabei hat die Frau keinen Schulabschluss. Nur die Dummen arbeiten heute noch fürs Nachbarschaftskomitee. Der Gedanke beruhigt L. Nach dem Bildungsgrad fragt die Volkszählung: „Universitätsabschluss“, antwortet L. So viel aber wollen die Papiere gar nicht wissen. Es geht nur um den Schulabschluss. Nach fünf Minuten hat die Völkszählerin L.s Wohnung wieder verlassen.

L. hat eigentlich nichts zu verbergen. Ihr konnte es egal sein, wann die Volkzählung zu ihr kommt. Doch so harmlos ist die größte Volksvernehmung aller Zeiten, deren Ausmaß Kaiser Herodes erblassen ließe, nicht für alle Chinesen. 6 Millionen Zähler mit einem Tageslohn von umgerechnet 1,50 Mark sind seit Mittwoch durchs Reich der Mitte unterwegs. Sie haben den Auftrag, 350 Millionen Haushalte zu interviewen, die ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachen. Am Ende soll der Beweis erbracht sein, dass China sein demografisches Ziel, nicht mehr als 1,3 Milliarden Einwohner im Jahr 2000 zu haben, erreicht hat.

So groß dabei das Einsehen der meisten Chinesen in den Zweck der Zählung ist, so groß sind auch die Ängste vor dem Missbrauch des Volkswissens. Viele Bauern wollen Vater Staat nicht sagen, wie viele Kinder sie haben. Oft haben sie mehr Nachwuchs als erlaubt. Auch hundert Millionen Wanderarbeiter, die in China je nach Arbeitsbedarf den Wohnort wechseln, gehen den Volkszählern lieber aus dem Wege. Ihr Aufenthalt und ihre Arbeit sind von den Behörden meist nicht registriert. Kommt der Staat ihnen auf der Schliche, müssen sie möglicherweise in ihre Heimat zurückkehren.

Vor allem auf dem Land, wo nach wie vor zwei Drittel der derzeit auf 1,26 Milliarden geschätzten Chinesen leben, ist die Volkszählung ein ernstes Geschäft. „Alle im Dorf sprechen darüber“, sagt Dorfbürgermeister Wang Zushen vom Flecken Xue Zhuan in der nordöstlichen Bauernprovinz Shandong. Der junge Bürgermeister betont, dass auch diejenigen Bauern keine Angst vor der Volkszählung hätten, die gegen die Familienplanung des Staates verstoßen haben. „Mit den Interessen der Bauern hat die Vokszählung nichts zu tun“, bläut Wang seinen Dorfuntertamen immer wieder ein. „Die Regierung will nur wissen, wie viele Menschen es heute gibt.“

Anders als in Peking sind in Xue Zhuan die Schlauen ausgezogen, das Volk zu zählen. Einen Lehrer, drei Buchhalter und zwei Bauern mit höherem Schulabschluss hat das Dorfkomitee ausgewählt, an die Türen der 1.400 Gemeindemitglieder zu klopfen.

Für viele Dorfbewohner sind die Fragen peinlich. Ob man über ein eigenes WC verfüge. Die meisten gehen noch in den Stall zu den Tieren. „Niemand wird uns offen die Zahl der gestorbenen Kinder sagen. Auch Fehlgeburten und Abtreibungen werden verschwiegen“, gesteht ein Volkszähler in Xue Zhuan.

Zwischen Bauern und Staat geht es ums Eingemachte: Die Bauern wollen nach alter Sitte einen Sohn; der Staat verbietet es ihnen, sofern schon zwei Töchter geboren sind. Also gibt es viele Töchter, die laut Statistik nicht geboren wurden. Gerade deshalb aber ist die Volkszählung für die Regierung so wichtig: Sie will wissen, wie groß die Dunkelziffern sind. Im besten Fall kann die Geburtenkontrolle bald wieder gelockert werden. „Ihre Zukunft planen“ heißt deshalb das Motto der Kampagne. Doch wer will dem schon trauen? Als Mao in den 50er-Jahren die Intellektuellen zur Selbstkritik aufforderte, wurden sie hinterher dafür bestraft. Und nichts anderes als Strafen wegen ihrer Kinder sind die Bauern vom Staat gewohnt. Vor allem die Ehrlichen werden sie nach der Volkszählung noch mehr fürchten.