Holocaust, allzu postmodern

■ Zweimal Herschel Grynszpan: Bremer Schulklassen beschäftigten sich mit dem Attentäter der Nazizeit und Joshua Daus' ChorAkademie widmete ihm ein Konzert

Unter dem Titel „Erlebnis Musik“ entwickelt die ChorAkademie an der Hochschule für Künste jährlich ein Projekt, mit dem SchülerInnen zum kulturellen und politischen Nachdenken angeregt werden sollen. War es letztes Jahr die Auseinandersetzung mit Goethe, so nahm man dieses Mal den am neunten November bevorstehenden Jahrestag der so genannten Reichskristallnacht, der Pogromnacht, zum Anlass, über Rechtsradikalismus nachzudenken.

Die Jugendlichen vieler Schulen wurden in Lesungen und Ausstellungen mit der Biographie von Herschel Grynszpan konfrontiert, der in Paris im Alter von siebzehn Jahren den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath erschoss. Diese Tat lieferte den Nazis den Vorwand für den angeblich spontanen, tatsächlich längst vorbereiteten Novemberpogrom gegen die deutschen Juden.

Den ersten Preis eines Wettbewerbs zum Thema macht die achte Klasse des ökumenischen Gymnasiums: Die Dreizehn- bis Vierzehnjährigen schrieben fiktive Briefe Herschels an Eltern, Freunde ... so bewegend und so einfühlsam, dass der Bremer Historiker Immanuel Geiss sie auf den ersten Blick für echt hielt. Der Preis: Die Briefe werden als Buch herausgegeben. Der zweite Preis ging an die Kunstklasse der evangelischen Bekenntnisschule, die Fotoporträts von ganz jungen und ganz alten Menschen zusammenstellte, die sich über den Nationalsozialismus äußern.

Auffällig ist die Preisvergabe an zwei Privatschulen, vielleicht lässt ja doch die Aufklärung und Auseinandersetzung in Staatsschulen, insbesondere sicher den Hauptschulen, eher zu wünschen übrig, wenn man liest, dass über achtzig Prozent der Jugendlichen nicht wissen, was Auschwitz ist.

Die Kunst zum Thema: das Oratorium „A Child of our Time“ des englischen Komponisten Michael Tippett. Die Wahl dieses Werkes, das in verschlüsselter Form die Biographie Herschels erzählt, wirft eine Menge Fragen auf.

Denn Michael Tippetts 1944 geschriebenes Werk lebt dermaßen aus zweiter und dritter Hand von Musikgeschichte, dass es an keiner Stelle seinem sowieso schon überdimensionalen Anspruch gerecht wird. Es stellt tonale Musik neben die kahle Nüchternheit à la Igor Strawinsky oder opulente Lyrismen à la Richard Strauss und Hindemith'sche neoklassizistische Trockenheit. Es mahlert und wagnert. Tippett räubert die Formengeschichte plakativ aus und kommt an keiner Stelle zu einer eigenen Kraft. Das Werk ist durchaus wirksam, aber kein Vergleich zu dem 1945 komponierten „Ein Überlebender aus Warschau“ von Arnold Schönberg.

Ich meine, dass gerade für ein solches Projekt, das Jugendliche mit klassischer Musik konfrontieren will, allerstrengste ästhetische Maßstäbe gesetzt werden müssen. Die unterhaltsamen Untermalungen von Michael Tippett, so ernst er sie mit Sicherheit meinte, reichen da jedenfalls nicht aus. Immerhin wurde der Chor den riesigen Anforderungen, die diese Partitur stellt, gerecht, ebenso wie die SolistInnen, Melinda Paulsen, Thomas Dewald und Thomas Mohr. Allerdings wurde die überragende Sopranistin Laura Aikin meist vom Orchester zugedeckt.

Eingangs hatten die Stuttgarter Philharmoniker das „Magnificat“ von Johann Sebastian Bach interpretiert. „Das war ja wie in den sechziger Jahren“, meinte eine Zuhörerin. Daus hält nichts von der historischen Auffühungspraxis, das hat er auch des öfteren verbal kundgetan.

Aber das Gefühl macht's eben doch nicht ganz, verführte ihn an diesem Abend zu so verschleppten Tempi, dass einige Stücke direkt erstarben. Dem Chor ist dennoch auch hier Respekt zu zollen.

Ute Schalz-Laurenze