: Leben auf Messers Schneide
Die Zeit, als ein Team den Europapokal dominieren konnte, ist vorbei. Diese Woche droht sogar Manchester United, dem umsatzstärksten Klub der Welt, das Aus in der Champions League
aus Manchester RONALD RENG
Es ist ein Stürmer, Andy Cole, der an diesem Mittag auf dem Trainingsgelände des englischen Fußballmeisters Manchester United den Verteidigern zeigt, wie man den Laden dicht hält. Da ist kein Durchkommen für zwei United-Nachwuchsspieler. Doch schließlich bedarf es nur des energischen Einschreitens der grauhaarigen, gut gebauten Empfangsdame auf dem Trainingskomplex in Carrington. „Schluss mit dem Quatsch!“, ruft sie, und schnell gibt Cole die Tür frei, die er in der Eingangshalle spaßeshalber mit beiden Händen zugehalten hat.
Wenn dem Angreifer beim Jux hinter der hölzernen Tür rasch der Widerstandswille ausgeht, ist das eine Sache – wenn es den Kollegen aus der Abwehr beim Ernstfall vor dem eigenen Tor genauso geht, eine andere. „Ich habe noch nie in einem United-Team gespielt, das dem Gegner so viele Torchancen ermöglichte“, sagte Dennis Irwin, im elften Jahr Außenverteidiger, über die 1:2-Niederlage im Champions-League-Spiel beim RSC Anderlecht vor zwei Wochen. Zuvor hatte United bereits 1:3 beim PSV Eindhoven verloren und bei Dynamo Kiew nur 0:0 gespielt, weshalb der umsatzstärkste Verein der Welt, vor anderthalb Jahren noch Gewinner der Champions League, nun „ein freakiges Unentschieden vom Ausscheiden in der ersten Runde entfernt ist“, wie der Londoner Independent on Sunday schreibt: United muss in der abschließenden Vorrundenpartie am morgigen Mittwoch zu Hause gegen Kiew siegen, ansonsten bleibt es in der Gruppe G hinter Anderlecht und Eindhoven zurück.
Doch selbst wenn sich der drohende Rauswurf nur als vorübergehender Schreck entpuppen sollte, so passt er doch in den Trend: Es scheint, als werde es die Mannschaft, die eine Saison von Anfang bis Ende dominiert, nicht mehr geben; ein Team wie das des AC Mailand 1989, wie Ajax Amsterdam 1995 oder United 1999. Seit die Champions League vergangene Saison auf 32 Teams aufgestockt wurde, braucht es 17 statt wie bis dahin 11 Partien zum Pokalsieg; angesichts der verstärkten internationalen Konkurrenz sowie des dichteren Terminplans kann offenbar kein Team mehr ganzjährig überragend sein. In der vergangenen Saison deutete sich das an, als in der Vorrunde der FC Barcelona dominierte, in der Zwischenrunde Bayern München und schließlich Real Madrid gewann.
Die diesjährige Vorrunde liegt in der Tendenz. Uniteds Trainer Alex Ferguson sah allenfalls zwei Teams, die durchgehend Klasse zeigten, Arsenal und FC Valencia. „Wir haben uns mit unserer Auswärtsschwäche das Leben selber schwer gemacht“, sagte Ferguson, „aber das scheint das Charakteristikum dieser Runde zu sein: Auswärts wird verloren. Ich glaube, 92 Prozent aller Siege wurden zu Hause eingefahren.“ Bemerkenswert gut gelaunt war Ferguson zum Gespräch über die Champions League erschienen, zwischendrin hatte er sogar ein paar freche Worte zur Berufung des Schweden Sven-Göran Eriksson zum englischen Nationaltrainer übrig. Ferguson (61) über Eriksson (53): „Der Junge hat Fähigkeiten. Aber ich war überrascht, dass er englischer Nationaltrainer wurde, denn für mich ist das kein Beruf, sondern eine Bestrafung.“ Die Aussicht einer desaströsen Niederlage gegen Kiew schien ihn nicht zu ängstigen. „Wir bei United lassen es doch immer bis zuletzt drauf ankommen“, sagte er, „wir leben auf des Messers Schneide.“
Wohl strapazierte United gerade in der erfolgreichen 98/99er-Serie die Dramen bis zum Extrem – erinnert sei an den 2:1-Finalsieg über Bayern München in letzter Minute. Doch könnten die Probleme diesmal tiefer liegen. Seit dem Ausfall von Jaap Stam, der nach seiner Achillessehnenoperation nicht vor Weihnachten zurückerwartet wird, hat United keinen einzigen herausragenden Innenverteidiger mehr. Der Norweger Ronnie Johnsen stagniert, Gary Neville und Mikael Silvestre sind jederzeit für einen Fehler gut. Seit United in Eindhoven sechs Stammkräfte schonte und prompt verlor, stellt sich zudem die Frage, ob die Reservisten fürs Mittelfeld genug Qualität haben. Es ist außer dem Torwart noch exakt dieselbe Elf wie beim Sieg 99, und vielleicht reicht das in einem schnelllebigen Metier wie dem Fußball heutzutage nicht mehr: Die Stärken zu konservieren.
Hat Ferguson versäumt, die Mannschaft weiterzuentwickeln? Er glaube, die beste Chance, die Champions League noch einmal zu gewinnen, komme nicht dieses, sondern nächstes Jahr, sagte der Coach. Hatte Ferguson etwa gerade die Schwäche seines jetzigen Teams eingestanden? Vorsichtig fragte einer nach: Und warum habe sein Team nächstes Jahr die besten Chancen? Alex Ferguson, geboren in Schottlands größter Stadt und stolz darauf, grinste. „Denkt doch mal nach: Weil das Finale nächste Saison in Glasgow ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen