Von der Patina zum Baustaub

Alles auf Absprung: Die Kammerspiele unter Dieter Dorn gehen mit der Uraufführung von Theresia Walsers „So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr“ in die letzte Spielzeit. Auch sonst schläft das Münchner Theater munter vor sich hin

von SABINE LEUCHT

Ein leerer Raum. Sechs Leute sitzen auf sechs Stühlen und reden. Und am Ende, wenn alle mit Reden fertig sind, ist ein Stuhl zu Bruch gegangen und ein paar Gefühle vielleicht auch. Illusionen hat sich hier von Beginn an keiner mehr gemacht. Es ist November, und von Hamburg über Bochum bis hinunter nach Zürich haben längst überall neue Intendanten gezeigt, wie in Zukunft das Wörtchen Theater zu buchstabieren und auszumalen sei: groß nämlich und poppig bunt, hübsch eigenwillig zumindest. Und da startet in München so spät und auch so klein ein Theater in die Spielzeit, das vielleicht einmal das exklusivste war im deutschsprachigen Raum.

Als ernste Konkurrenz für die Hauptstadtbühnen hatte es in den Zwanzigern Therese Giehse, Marianne Hoppe und Heinz Rühmann unter Vertrag. Und bis heute sind es vor allem große Schauspielernamen, die man mit der Marke „Münchner Kammerspiele“ assoziiert: Namen wie Rolf Boysen, Thomas Holtzmann, Doris Schade, Christa Berndl oder Gisela Stein. Und Begriffe wie Schauspieler- und Ensembletheater; Sprechtheater sicher auch, Klassikerbühne sogar ganz bestimmt. Regiehandschriften dagegen galten hier in den letzten Jahren umso weniger, je mehr sie sich von der feinen Linie des Prinzipals Dieter Dorn entfernten. Der hat nach einem Vierteljahrhundert Regieren gar nichts dagegen, auch mal als „Hoher Priester“ bezeichnet zu werden. So hat sich über manche Produktion im hohen Haus die Patina des Erfolgs gelegt, der Staub des Kultivierten – mit der Gewissheit, dass beides von Dauer sei.

War es nicht. In diesem Sommer wurde dem räumlich eher kleinen Haus an der Maximilianstraße eine ganz andere Sorte Staub zum Problem: Baustaub nämlich, nicht enden wollender. Einige Daten: Ende 1999 stellten die Kammerspiele planmäßig den Spielbetrieb ein in der Hoffnung, während der 150 Millionen Mark teuren Umbauphase ab Mai 2000 wenigstens die künftigen Proberäume bespielen zu können. Wenige Tage vor der geplanten Wiedereröffnung dann das Aus: Die Uraufführung von Theresia Walsers „So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr“ wurde mit zwei weiteren halb geprobten Stücken noch einmal in die Warteschleife gehängt. Der Grund: Der bayerische TÜV hatte unter anderem Stromschlaggefahr im Probengebäude diagnostiziert, weil ein Stahlträger auf der schon frisch geputzten Baustelle nicht geerdet war. Voraussichtlicher neuer Eröffnungstermin: 15. September. Das wäre überpünktlich zum Beginn der Spielzeit 2000/2001 gewesen und also ein zumindest zeitlich adäquater Auftakt für Dieter Dorns letzten Streich, bevor er sich auf der anderen Seite der Maximilianstraße an die Spitze des Residenztheaters setzt.

Wäre der Septembertermin eingehalten worden, so hätten für Walsers Bandwurmstück mehr als ein paar Stühle zur Verfügung gestanden, denn Stéphane Laimé hatte schon ein richtiges Bühnenbild parat: eine Bank in einer Bahnhofskulisse, auf der am Tage seltsame Paare sitzen: Hans Rudi und Rita, Brax und Helga, Friedel und Marie. Oder ist es immer dasselbe Paar, das nur unterschiedliche Namen braucht, auf dass sein Alltag Farbe bekommt? Immer jedenfalls hat es einen Vermummten in seiner Mitte, eine Mischung zwischen Maskottchen und Opfertier, vor der die eigene Lebenskatastrophe recht klein wird. Ein Ausländer kommt hinzu, dann ein leichtes Mädchen.

Nachts aber treffen sich drei Knaben am Bahnhof. Knaben, die „keine Haare mehr“ haben, brutal sind wie Skinheads. Doch der Verlust der Haare meint auch ein Altern vor der Zeit, aus Mangel an Zukunft oder so. Auch eine Anzeigentafel hätte es in diesem Bühnenbild gegeben; und vielleicht wäre auf ihr erschienen, was die Autorin in ihren Regieanweisungen beschreibt: „eine Art Werbung, auf der die drei Knaben zu sehen sind, mit Haaren, in einem Ballonkorb zwischen Wolken und blauem Himmel schwebend. Es könnte eine Stilisierung der drei Knaben aus der Zauberflöte sein.“

Uff! Nichts davon mehr jetzt im November, denn die schludrige Elektrofirma ging letztlich pleite. Bankrotterklärungen von weiteren beteiligten Firmen folgten. Und um die Konkursmasse für das Insolvenzverfahren einschätzen zu können, wurde die Baustelle im Sommer ganz geschlossen. Die Mitschuld des Münchner Baureferats an dieser Schlamperei ist schwer zu ermessen, wenn auch sicher. Mittlerweile hätte Dorn jedenfalls allen Grund, sich vor der Stadt in die Schmollecke zurückzuziehen. Immerhin fühlte er sich lange zuvor schon vom Kulturreferenten hintergangen, der dem „Manager-Intendanten“ Frank Baumbauer seinen lieb gewordenen Job anbot.

Fast heroisch dagegen der Ton jenes Fax, mit dem die Leitung des traditionsreichen Hauses Ende September den „Rückzug auf sich selbst“ verkündete: Mit vier Premieren und sechs Wiederaufnahmen wolle man drei eigene kleine Spielstätten bespielen, darunter den alten Werkraum hinter dem Haupthaus. Dort stehen wir jetzt nach der ersten Premiere und behaupten vorlaut: Dieser Rückzug war eine Offensive – nimmt man zum Maßstab, dass die Verschlankung von Walsers „wilden Wäldern“ keine brave Allee zu Tage befördert, sondern ein komödiantisches Kleinfeuerwerk entzündet hat. Dabei macht einen das Stück beim Lesen einigermaßen ratlos, auch wenn man die schrill poetischen Verzweiflungswelten der „Autorin des Jahres 1999“ kennt, die sie etwa in der blutigen Altenheimfarce „King Kongs Töchter“ zeichnete.

Arg verkünstelt schon die Szenenanordnung – je eine „Knaben-“ und eine „Gesellschaftsszene“ im Wechsel –, und die Sprache mit so viel Stilwillen angereichert, dass man sich an den Brocken fast verschluckt. Dies ist ein Stück zum Drinverirren, ohne dass es je richtig gruselig wird. Auf der Bühne stellt man es sich breit vor, macht sich auf einen langen Abend gefasst und ist dann fast enttäuscht, wenn er nach neunzig Minuten schon endet. So sehr hat der Regisseur Jan Bosse den Text beschleunigt und als Orientierung im Rätsel- und Metapherndickicht die Wiederholungen akzentuiert. Walsers Katastrophenpersonal hat er alle Requisiten, ja selbst das Instrument der Bewegung weit gehend genommen. Die Knaben tragen nicht mal Glatzen, sondern nur ab und an Strumpfmasken über dem Kopf. Ansonsten: Mimik, Gestik, Stimme und Timing.

Schon erstaunlich: Bosse, der Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“ mit Regieeinfällen zumüllte, der Ende vergangenen Jahres Jens Harzer als „Tasso“ in einem übergroßen Kristalllüster spielen ließ und für all das noch vielfach Applaus bekam – derselbe Jan Bosse übt sich nun in Zurückhaltung. Und siehe da: Der Liebhaber des (Bloß-)Dekorativen macht als Purist keine üble Figur. Dank der so großartig ihr Mundwerkzeug beherrschenden Schauspieler: Da wäre zum Beispiel die maschinengewehrhafte Comicsprache von Marc Oliver Schulzes Knabe A zu nennen oder die unter falscher Lieblichkeit versteckte Hysterie von Sibylle Canonicas (Ehe-)Frauen, das beeindruckende Stillhalten von Heiko Ruprecht unter wechselnden Verhüllungen und Oliver Nägeles Lachattacken, die man gegen Ende fast dem Spaß an der Sache zuschreiben mochte. Auch dabei: Hans Löw und die Walser-Schwester Franziska.

Zugegeben, nach der Uraufführung ist immer noch fraglich, ob in dem Stück mehr steckt als die schmale These im Endlostitel: „So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr“ – das meint: so wild wie unter der Oberfläche menschlicher Loser-Seelen. Walser macht für das, was von da herausdringt, das Fernsehen verantwortlich. Nun ja. Der Rest ist Rätsel.

„Mir gefällt’s. Wehe, Ihnen gefällt’s nicht“, rief ein gut gelaunter Dieter Dorn vor der Premiere einem Kritikerkollegen zu. In den letzten Monaten hat Dorn sein Image der beleidigten Leberwurst abgelegt und auch der Kulturreferent, „Münchens best angezogenes Stück Seife“ (Dorn über Nida-Rümelin), darf sich auf jeder Kammerspiel-Premiere sehen lassen.

Kein Wunder: In diesem Jahr feiert Dorn seinen 65. Geburtstag. Doch wo andere spätestens in Rente gehen, hat er als angehender Intendant des Bayerischen Staatstheaters noch einmal neu die Chance, Staat zu machen. Dass er es an seinem alten Haus nicht noch mal richtig krachen lässt, sondern mit Schwab, Bernhard, Kroetz und Co. eher auf Altbewährtes setzt, das ist wohl so die Art, wie man in München Abgänge inszeniert.