100 Pointen/min.

In sieben Folgen am Schauspielhaus: René Polleschs Soap „world wide web-slums“  ■ Von Nikola Duric

Wenn in einem Stück von René Pollesch eine Figur Telekinese beherrscht, ist sie auch für die Umbauten verantwortlich. Von einer Szene zur nächsten bewegen sich Stühle durch den Raum und Lampen fahren auf und ab. So einfach und elegant erledigt Pollesch visuelle Umsetzungen, der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt jedoch im Text.

René Pollesch ist eine lebende Textmaschine. Während seines Studiums der angewandten Theaterwissenschaften in Gießen lernte er beim amerikanischen Gastprofessor John Jesurun eine alternative Art des Sprechtheaters kennen: die Bühnenversion einer Sitcom oder Soap. Jesurun dreht die Sprechgeschwindigkeit der Schauspieler so hoch, dass eine Pointe die andere zu jagen beginnt und den Zuschauern im Grunde keine Zeit bleibt, sich vom Text zu erholen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: eintauchen und wegschwimmen oder einfach nach Hause gehen.

Es ist Ende der 80er Jahre. Im Fernsehen läuft gerade der sprechende Alien-Teddy Alf durchs Wohnzimmer. Al Bundys schrecklich nette Familie ist noch nicht angelaufen und deutsche Dailys sind fern. Schon zu dieser Zeit schreibt und inszeniert Pollesch das Kettensägenstück Splatterboulevard für die Bühne und schickt seine Familienserie Daheimbs wöchentlich ins Rennen. Er ist ein Pop-Literat avant la lettre. Haufenweise fließen Mythen des Alltags in seine Geschichten, die er verschwenderisch in einzelnen Sätzen unterbringt. Unvergessen die Story des Superhelden im Spiegelglaskostüm. Es war unmöglich einen Film über ihn zu drehen, weil sich die Kameras ständig in seinem Cape wiederfanden.

Pollesch unterschied sich jedoch schon damals von der selbstreferentiellen Bekenntnis-Literatur, die heute als Pop-Schreiben gehandelt wird. Er verzichtet auf lineare Plots und Psychologie und arbeitet mit filmischer Wahrnehmung, mit Schnitten, die sich durch Textmontage ergeben. Zu dem Markenzeichen seiner Inszenierungen werden Dialoge, die er wie Ping-Pong-Bälle über die Bühne schickt. Rasend schnell und monoton im Vortrag, gleichzeitig aber überladen mit Beschreibungen und Witz. So zum Beispiel seine Stückserie Ich schneide schneller: „Ein Zimmer, Ralf und Angela kommen durch die Tür links. Requisiten aus dem Urknall. Sie kämpfen sich durch. Ralf: Ich werde mich totsaufen. Angela: Aber du bist so schön. (Simultantrinken) Prospekt: Ziegelstruktur, Schlachthaus, unterirdische OPs; herausrasierte Tiere. Ein Mord-rückwärts im Hintergrund.“

Anfang der 90er gründet Pollesch das Theater Montage in Frankenthal. Von '92 bis '95 inszeniert er seine Stücke Harakiri einer Bauchrednertagung und Ich schneide schneller 4 unter anderen Eigenproduktionen auf der TAT-Probebühne in Frankfurt am Main. Mithilfe des akrobatischen Sprechens und der rauschhaft schnellen Anschlüsse löst Pollesch Geschichten in Versatzstücke auf: „Manchmal ist ein ganzer Satz die Pointe, und wenn Du in der Mitte eine Pause machst, aus lauter Gewohnheit, oder um den Satz in mundgerechte Teile zu zerlegen, dann wissen die Zuschauer schon, wie der Satz weitergeht“, erklärt Wortbeschleuniger Pollesch. „Diese Art von Sprechtheater besitzt eine theatralische Dichte, die ich beim konventionellen Theater vermisse, wo die Schauspieler ständig Pausen machen, die sie dann mit überflüssigen Gesten füllen.“

Während Pollesch seiner Inszenierungsart treu bleibt, ändern sich langsam seine Themen. Die Horrorfilmszenarien verblassen und von durchgespielten Oscar-Verleihungsnächten bleibt nur der Glamour und die Hysterie übrig. Ab 1998 holt er mit Heidi Ho I-II am Podewil in Berlin zum Doppelschlag aus. Heidi Ho ist eine Telearbeiterin für DaimlerChrysler. Mit ihren Freundinnen durchschreitet sie die Niederungen der New Economy. „Jeder Job ist ein Cliffhanger.“ Mit Themen wie „Globalisierung & Verbrechen“ arbeitet Pollesch gegen den ausbeutenden Turbokapitalismus. Das Deutsche Schauspielhaus hat ihn jetzt als Hausautor verpflichtet, und ab heute zeigt er wöchentlich eine neue Folge seiner selbst inszenierten siebenteiligen Internet-Saga world wide web-slums.

1. Folge: heute, Do, Fr und Di, 22.30 Uhr; die weiteren beginnen jeweils Mi, Schauspielhaus