Armes Kind mit Glatze

■ Multikulti ist deutsche Realität: In der Oldenburger Fabrik feierte das tolle Stück „Keloglan in Alamania“ seine Uraufführung

Gut Ding will eben Weile haben. Neun Jahre lag der Theatertext „Keloglan in Alamania“ in den Schubladen von DramaturgInnen, beinahe gab es das Stück am inzwischen abgewickelten Schillertheater zu sehen. Ein Glücksfall für die Autorin Emine Sevgi Özdamar, dass es dann doch noch ein wenig schlummerte und erst jetzt von Murat Yeginer wachgeküsst wurde.

Denn der türkischstämmige Schauspieler hat sich nicht nur als Autor und Regisseur über Oldenburg hinaus einen Namen gemacht, er kann, darf mit dem Stoff freimütig, ohne deutsches Betroffenheitsgedusel, Beklemmungen, Selbstzensuren umgehen. Er inszeniert den Stoff als Jugendstück, mit jungen Laien auf der Bühne der Fabrik Rosenstraße, neben den Profis vom Staatstheater.

Erzählt wird die Geschichte von Keloglan – auf Türkisch so viel wie ein armes Kind mit Glatze –, der am Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag schnell noch eine Arbeit, eine Braut oder beides finden muss. Sonst wird er am nächsten Morgen in ein Flugzeug gesetzt und abgeschoben.

Keloglan wohnt bei seiner Mama, Kelkari. Sie kommt singend im Kostüm der Madame Butterfly auf die Bühne, nimmt einen beherzten Schluck aus der Ajaxflasche und schwingt die Bohnermaschine im Takt. In ihrer Heimat war sie Opernsängerin, zurück wollte sie immer. Mutter und Sohn reden einvernehmlich nur in einer „Ü“-Sprache; vertürktes Deutsch – eine Art Immigrantenesperanto – das die Autorin zum Stück inspirierte, als sie in einem Zug nach Griechenland unterwegs war. Griechen, Türken und Jugoslawen im Abteil hatten nur eine gemeinsame Sprache: dieses Deutsch.

Die Forderung nach Integration empfindet Emine Sevgi Özdamar – die in Paris lebt – als Sonderweg der Deutschen: „Frankreich hat eine lange Kolonialgeschichte, da gibt es dieses Thema nicht. Deutschland kolonisiert heute nach innen“, und das Gerede um die multikulturelle Gesellschaft, die kommen möge oder nicht, kann sie nicht verstehen: „Man benennt ja nur Dinge die es schon gibt, und Multikultur ist hier schon Realität.“ Eben: Keloglan sitzt mit Raverglatze in Jägermeister-T-Shirt zur Paysleyhose vorm Video, guckt Guano-Apes. Noch sind er und Kelkari über einen roten Wollfaden verbunden. Das Knäuel hat die Mutter in der Hand. Sie lässt ihn nicht los, hat schon den Brautpreis gespart und zieht mit dem Kater Tekir los, um eine Braut zu finden.

Das Stück ist voll von fabelhaften Stellvertretern, märchenhaften Übertreibungen, die das transportieren, was man Binnenrealität nennen könnte. Denn das Fabelwesen Kater etwa steht hier stellvertretend für die türkische Verwandtschaft, die in solchen Konfliktfällen in der Regel beschwatzt, vermittelt, verkuppelt, Wogen glättet. Schreiend komischer Trash: Olaf Napp als spitzer Kater im Netzcatsuit mit Schlaglederhose und tuntigem Hang zum Schmusen. Maunz. Einiges in der Konstruktion entlehnt sich dann noch bei Moliere: die singende Putzfrau, die den Überblick behält, in die Szene einführt, die Geschicke zu lenken sucht.

Norina Scalorbi stellt ihre ganze blümchenbeschürzte Vollleibigkeit nicht nur in den Dienst ihrer Operettenstimme, sondern sprühender, vitaler Komik, und Guido Wachter ist der naive, quirlige linkische Junge, der einem Kaspar gleich in Fallen tappt, von Räubern überfallen wird und schließlich in einem Märchenwald seine Angebetete findet: eine entzückende Julia Bähre als Retro-Rotkäppchen, mit applizierten Gänseblümchen und Häschenpantoffeln.

Ganz vorsichtig nur lässt Murat Yeginer in seine Inszenierung Aktualität eintröpfeln, von der die Autorin 1991 beim Schreiben noch unberührt war, denn der Brandanschlag von Mölln wurde erst spüter ausgeübt. Aber in der „Fabrik Rosenstraße“ lassen Keloglan und Kelkari lieber nichts anbrennen: Es hängen genug Feuerlöscher im Haus.

Eine sehr zeitgemäße Mischung, die das junge Uraufführungspublikum begeisterte und bei einem älteren Mann neben mir, der so gar nicht teutonisch aussah, immer wieder Tränen hervorbrachte. Er applaudierte später sehr viel und ging sehr leise davon.

Marijke Gerwin

Die nächsten Aufführungen in der Fabrik Rosenstraße: 8./13. November 10 und 12.30 Uhr, 9. November 17 und 19.30 Uhr, 11./12. November 15 Uhr. Karten und Infos gibt es telefonisch Tel.: 0441/22 25 111 oder im Internet unter der Adresse www.oldenburg.staatstheater.de .