Ja! Wir glauben an die wahre Liebe!

Der klassische Stoff, von dem Soul handelt: Jill Scott legte Zeugnis ab im Maria am Ostbahnhof. Ein Katharsisbericht

ir haben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Soul gesehen. Die Liebe, das Leiden, den lieben Gott und alles andere auch. Wir waren bei Jill Scott.

Dafür, dass Jill Scott vor sechs Wochen nur einer Handvoll Bescheidwissern ein Begriff war, standen sich erstaunlich viele Menschen erstaunlich lange im Regen die Beine in den Bauch vor dem Maria am Ostbahnhof, um sie zu sehen. „Hast du überhaupt schon mal was von der gehört“, fragt ein Mädchen einen Jungen, „ja, is super“. Viel mehr weiß allerdings niemand. Ihre Platte „Who is Jill Scott?“ ist seit Wochen ausverkauft und die, die sie haben, kriegen sich vor Begeisterung kaum ein. Jill Scott kommt aus Philadelphia, war mit der HipHop-Gruppe The Roots auf Tour, hört sich an wie Erykah Badu, ist eigentlich aber Schriftstellerin. Das ist Neo-Autoren-Soul, kein R'n'B. Der klassische Stoff.

Jill Scott kommt mit kompletter Band auf die Bühne: Posaune, Trompete, zwei Background-Sängerinnen, Bass, Schlagzeug, Percussion, Rhodes-Piano. Soul handelt ja oft von kathartischen Momenten, in denen Zeugnis abgelegt wird: Etwa wenn Jill Scott vortritt, sagt, sie müsse jetzt ein bisschen aus dem Bühnenlicht, um uns zu sehen, sie wolle eine Geschichte erzählen. Sie sei mit einem Kerl zusammen gewesen, der sie mies behandelt habe, richtig mies. Und danach habe sie sich gesagt, Schluss mit Liebe, das war’s, Ende, aus. Wofür das ganze Theater? Fuck that. Und ist nicht Sex einfach so auch okay? Ist es. Wir wollten doch alle mal ein bisschen Sex hier und ein bisschen Sex da. Aber dann, dann, dann . . . dann habe sie ihn getroffen! Ihn! Ihn, der erst ein Freund gewesen sei und dann ein Lover, ihn, der ihr Respekt gegeben habe! Ihn, mit dem Sex auf einmal Liebe war! Ihn! Spätestens hier, wo Jill Scott eine Hand hebt und auf den Ring an ihrem Finger zeigt, schreit die ein Hälfte des Publikums vor Begeisterung, während die andere mit den Tränen kämpft: Ja, wir glauben an die Liebe. Ja, Jill, wir glauben dir!

Oder wenn Jill Scott ein Stück über eine Vierzehnjährige aus ihrer Neighbourhood singt: Ein hübsches Mädchen, das sie auf der Straße gesehen habe, die von Männern aber keinen Respekt bekommt und nur gefickt wird. „Say it again!“, sagt die Backgroundsängerin. Die nur gefickt wird, und die sich selbst hasst. „Say it again!“, die die Männer nur ficken, aber nicht respektieren – nicht sehen, wie schön sie eigentlich ist. Wie rund und weich. „O Lord!“ Im Publikum ist es still, die Backgroundsängerinnen senken ihre Köpfe.

So geht es das ganze Konzert über: Liebe, Leiden, manchmal rezitiert Scott kleine Geschichten aus ihrem Notizbuch. Jill Scott singt, flüstert, erzählt, einmal imitiert sie das Geräusch, als werde ihre Stimme von einem DJ gescratcht. Es hat etwas von Gospel, Funk, Jazz und Spoken-Word-Performance.

Und zu guter Letzt handelt es natürlich auch von Politik und davon, es Ernst zu meinen. So werden wir mit einer gereckten Faust und „God bless you. Peace, Love, Respect and Power to the People!“ in die Nacht geschickt.

TOBIAS RAPP