jazzkolumne
: Jazzmusiker entdecken den E-Commerce als Waffe

Aufstand im Internet

Ein Plattenvertrag ist etwas für Charismatiker oder Nobodys. Doch kaum einer der großen Stars der Jazzgeschichte erreichte lebend die Neunzigerjahre, und ein Ersatz für auratische Figuren mit entsprechender Medienpräsenz, wie sie Miles Davis einst hatte, ist nicht in Sicht. Diese Musiker hatten dem Jazz einst das gegeben, woran heute alle kauen: Image.

„Hipness is a fact of life“, hatte der Saxofonist Cannonball Adderley einst referiert, und in diesem Sinne kann ein Plattenvertrag für unbekannte Musiker bestenfalls nur eine dankbare Chance eröffnen, sich bekannt zu machen. Vielleicht klangen deshalb so zahlreiche Versuche junger Jazzmusiker in der vergangenen Dekade, irgendwie einen tagesaktuellen Anschluss an popkulturelle Strömungen hinzubasteln, doch eher nach einem langen Abschiedsgruß. Nur dass der Zug, der da so rasant am Jazzgleis vorbeirauschte, gar nicht umgeleitet worden war. Im Fahrplan war schlicht gar kein Halt vorgesehen.

Auch kurzzeitiger Medienhype und der herbeigeredete nächste Jazzboom konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nachfrage von Seiten eines tatsächlich existierenden Publikums immer mehr schwand. Die Jazz-CD-Verkaufszahlen stürzten in den Keller, und es gibt heute kaum noch Jazzkünstler, die in der Lage wären, die New Yorker Carnegie Hall auszuverkaufen.

Und wenn dann mal wirklich etwas boomt, das das Four-Letter-Word „jazz“ im Titel trägt, dann will keiner, der sich halbwegs seriös wähnt, damit etwas zu tun haben. Der Erfolg des Smooth-Jazz-Formats hat die kommerziellen amerikanischen Radiosender infiziert und den schnellen Niedergang der traditionellen College-Jazzradios befördert. Traurig und betroffen stehen vor allem jene Jazzer ratlos vor dem Scheibenhaufen, die einfach nicht wahrhaben wollen, dass ein Fahrstuhlgedudel hipper sein soll, als alles noch so ambitionierte Jazzgefummel, das dann doch keiner kaufen mag.

Angesichts solch harter Facts geht die bumerangähnliche Selbsttröstung traditionell für viele so: Der ernsthafte Jazzmusiker sei vom Markt deshalb weitgehend ausgeschlossen, weil die Plattenfirmen sich um Promotion und Distribution seiner Tonträger nicht richtig oder gar nicht kümmern würden. Die hingegen, die das ständige Gejammer darüber satt haben, bemühen sich seit geraumer Zeit um eigenständige Internetauftritte und die Nutzung neuer Tonträgermedien und Distributionsstrukturen.

Die Entwicklung unabhängiger Netzwerke war das Projekt des Trompeters Lester Bowie gewesen, der heute vor einem Jahr in New York an Krebs starb. Einer der noch lebenden und aktiven Protagonisten dieser immens produktiven Kreise ohne Majorverträge ist der heute sechzigjähige Gary Bartz, einer der bedeutendsten Altsaxofonisten seiner Generation. 1970 rief ihn Miles Davis an, und Bartz nahm seine große Chance wahr. Mit verschiedenen Mitschnitten aus jenem Konzertjahr wird „Live-Evil“ das radikalste aber auch bezauberndste First-Take-Dokument aus der wilden Zeit des so genannten Electric Miles.

Das Herzstück der Karriere des Gary Bartz ist jedoch eine Band, die er Ende der Sechzigerjahre gründete und NTU Troop nannte. Den Namen entlieh Bartz der Bantu-Sprache, er symbolisierte für ihn die gesamte Kunst Afrikas. Die NTU Troop machte politisch ambitionierten Jazz mit sozial engagierten Texten. Zwei NTU-Troop-Platten, aufgenommen im New Yorker Winter vor dreißig Jahren, „Harlem Bush Music“, „Taifa“ und „Uhuru“, widmete Bartz dem Gedenken an Malcolm X und John Coltrane. Weitere Aufnahmen von Anfang der Siebziger sind auf der Gary Bartz NTU-Troop-CD „Juju Street Songs“ wiederveröffentlicht, darunter auch die sehr einfühlsame Andy-Bey-Version des Stevie-Wonder-Titels „Black Maybe“. Beim diesjährigen Berliner JazzFest nahm der Sänger und Pianist Andy Bey in einem exklusiven und gefeierten Konzert unmittelbar Bezug auf diese Tradition mit seiner Komposition „Celestial Blues“, die er 1971 mit der Gary-Bartz-NTU für „Harlem Bush Music – Uhuru“ aufgenommen hatte.

Die Geschichte von Bartz’ eigenen Plattenaufnahmen handelt von Nullmarketing und Nichtpromotion. Es sei, so interpretiert Bartz, der logische Umgang mit einem Produkt, das man eigentlich nicht will. Die großen Plattenfirmen streben aggressiv nach Kontrolle über alle Prozesse der musikalischen Produktion, kreative und messagierte Werke würden keine Chance bekommen. In vierzig Jahren hat Bartz allein siebenunddreißig Platten unter eigenem Namen veröffentlicht, er habe aber nicht einen Pfennig dran verdient, und Rechte an seinem Werk halte er auch nicht. Er vergleicht die Plattenfirmen mit Plantagen und bezeichnet die Musiker, die auf ihren Feldern schuften, als Sklaven, die das auszuführen hätten, was machtgeile Produzenten ihnen vorschreiben. Bartz geht heute davon aus, dass Generationen von Musikern in die falsche Richtung gestarrt haben – vor allem in den vergangenen dreißig Jahren. Kurz gesagt: Die Hoffnung auf einen Plattenvertrag trat an die Stelle der künstlerischen Vision.

Von seiner Kritik nimmt Bartz keinen aus. Auch die CDs des einunddreißigjährigen Saxofonisten James Carter nicht, dessen Auftritte beim Berliner JazzFest 2000, das am Sonntagabend zu Ende ging, dem historisch bedeutenden Jazzfestival zu neuen Ehren verhalf. Die Vereinnahmungs- und Veröffentlichungspolitik der Plattenfirmen sei destruktiv, und deshalb fordert Gary Bartz so vehement: „Be in complete control of your product!“

Aus diesem Kreislauf will Bartz nun ausbrechen, sein eigenes Plattenlabel heißt „OYO Records“, „OYO“ steht für „Own Your Own“. Bartz setzt dabei voll auf die neue Vertriebsstruktur Internet, an den fehlenden Möglichkeiten, ihre selbst kontrollierten Produkte auch unter die Leute zu bringen, sind eben nicht gerade wenige Independend Labels in der Vergangenheit gescheitert. Die erste CD seines Labels heißt „Live@The Jazz Standard“ und ist ein atemberaubender Mitschnitt eines Konzerts in dem angesagten New Yorker Club. Selten gerät eine Jazz-Quartettaufnahme so dicht und intensiv, so energiegeladen und stimmig wie diese neue CD von Bartz. „This is a MOP – Musicians Owned Product“ steht in dem Booklet, und dass er die Musik mit der Haltung gespielt habe, die er einst von Miles Davis lernte. Die CD ist über www.jazzcorner.com erhältlich. CHRISTIAN BROECKING