Oberflächlichkeit und Tiefe

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Nach der Demo gegen rechts gilt morgen: Saufen gegen rechts – das Thema „mal vom Tresen flankiert“

Souverän ist, wer die Begriffe definiert. Das hat gerade der neue CDU-Generalsekretär gesagt. Schneekoppe. Man nennt den Reichstag jetzt Schneekoppe. Wer hat den Begriff definiert?

Die Reichstags-22-Toiletten-Synchron-Koks-Variante haben Experten bereits ausgeschlossen. Trotzdem wollte Professor Sörgel am Wochenende „noch einige Experimente zu der Frage machen, wie das Kokain auf die Toiletten“ kam. Experimente? Die Putzfrau, die das Kokain im Zuge der Wischwasservariante auf die 22 Toiletten verteilte, hat sich noch nicht gemeldet. Dabei weiß doch jeder, wer die Putzfrau war. Daum. Die Putzfrau war Christoph Daum. Warum soll er denn alles allein tragen? Bis gestern noch leitende Leitkultur und heute schon amerikanisches Exil. Nur wegen einem Haar. Die Toilettenidee war wirklich gut. Einer von der CSU-Leitkultur hat bereits gesagt, bei konkreten Verdachtsmomenten sei eine Haarprobe natürlich unverzichtbar. Nur Wolfgang Thierse will nicht. Thierse findet, Ulrich Meyer und Sat.1 gehören nicht wirklich zur journalistischen Leitkultur. Kennen wir schon. Der Unterschied von „U“ und „E“. Weil es doch auch sein kann, dass der investigative Sat.1-Journalist selbst das Koks auf die Toiletten brachte. Er trug nämlich bei der Probenentnahme keine Handschuhe. Das ist dann, da hat Thierse Recht, natürlich absolute U-Kultur. Und keiner macht sich einen Begriff davon, wie Kokain an den Händen haftet. Man kriegt es da gar nicht wieder ab, sagte ein Experte am Sonntag in Spiegel-TV.

Trotzdem: Haarprobe wäre gut. Zuerst macht der Deutsche Bundestag die Probe und geht anschließend ins amerikanische Exil. Das ist gar nicht so schlimm, wie Thierse glaubt.

Nehmen wir mal die amerikanischen Präsidenten. Das ist einfach eine ganz andere Leitkultur. Clinton. Der hat in England Haschisch geraucht. „Aber nicht inhaliert.“ Und wurde trotzdem, gewissermaßen, oberster amerikanischer Nationaltrainer. Oder Al Gore. Al Gore hat sogar eingeatmet. Mit George W. Bush liegt die Sache schon ein wenig komplizierter. Ronald Reagan jr. sagte gerade über den Präsidentschaftskandidaten: „Bush hat den größten Teil seines erwachsenen Lebens damit verbracht, in Alkohol zu baden. Er war die meiste Zeit betrunken.“ Und morgen wird er vielleicht amerikanischer Präsident. Warum? Weil die Amerikaner ihm verziehen haben. Weil George W. Bush sich gebessert hat, und Amerikaner mögen eben Menschen, die sich bessern. „In meiner Jugend“, hatte Bush immer gesagt. Bushs Jugend währte bis zu seinem 40. Geburtstag. Selbst das haben die Amerikaner ihm verziehen. Amerikanisches Exil wäre wirklich die Lösung. Der Deutsche Bundestag könnte mit Daum zusammen am Strand liegen, einen Joint rauchen und über sich nachdenken. Über die Leitkultur. Oder die CDU fährt allein. Der neue Generalsekretär Laurenz Meyer müsste zusätzlich noch über den Satz nachdenken: Selbst der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering habe inzwischen erkannt, „dass die CDU die Leitpartei“ in Deutschland sei. Wegen solcher Sätze hat Angela Merkel den Polenz ablösen lassen? In Miami Beach hätte sie Muße, das noch einmal zu reflektieren. Und das soeben schlussredigierte Positionspapier der CDU gleich mit. Angela Merkel hat die Leitkultur da wieder reinschreiben lassen. Doch statt „deutsche Leitkultur“, wie Fraktionschef Merz wollte, heißt es nun: „Leitkultur in Deutschland“.

„Deutsche Leitkultur“. „Leitkultur in Deutschland“. Vielleicht war es doch nicht Daum? Überhaupt keine Putzfrau. Und Professor Sörgel könnte aufhören mit den Experimenten, weil jeder nun den Selbstversuch machen kann: Welche Mindestdosis braucht man zum Verständnis bestimmter semantischer Unterschiede?

Deutsche Leitpartei. Neuruppin hat gerade einen Marx-Kopf wieder aufgestellt, der vor zehn Jahren vom Sockel geholt worden war. Gegen den erbitterten Widerstand der Leitpartei. Die stülpte dem Marx einen blauen Plastesack mit der Aufschrift „Sondermüll“ über den Kopf. Nun gut, die Neuruppiner haben den Marx ausgerechnet an Allerheiligen recycelt. Vielleicht, weil da alle Zeit hatten. Sind die Neuruppiner gefährlich? Nicht wirklich. Der Marx-Kopf ist nämlich eine Fritz-Cremer-Büste. Fritz Cremer war, was die Leitpartei nicht wissen konnte, ein großer Bildhauer. Sozusagen ein Leitbildhauer, der einen, nun, ehemaligen Leitdeutschen porträtierte. Darum stehen Duplikate der Neuruppiner Leitbüste auch in Paris und Trier. Nun ist, dachten die Stadtväter wohl, rein geschichtlich gesehen, gar nicht so häufig, dass Neuruppin ein Original und Paris die Kopie hat. Warum es dann nicht zeigen?

An diesen und ähnlichen Fällen erkennen wir: Gelegentlich muss man die Kultur vor der Leitkultur-Partei schützen. Überhaupt kann man sich in der Kultur ganz schön verlaufen. Merz erklärte, er meinte gar nicht die Kultur, sondern die Verfassung. Gleichheit, Demokratie und Menschenrechte. Warum hat er das dann nicht gesagt? Er meinte also die Zivilisation, nicht die Kultur. Zivilisation – das ist Befriedigung und Zähmung der Kultur. Kulturen sind das absichtslos historisch Gewachsene. Daraus kommt ihr Reiz, ihre Unverwechselbarkeit, ihre Brutalität auch oder, sagen wir, ihre Ungerechtigkeit. Zivilisation aber ist das Reflexivwerden der Kultur.

Deutsche Kultur versus westliche Zivilisation? Das dachten Thomas Mann und ein paar andere auch einmal. Nur dachte Thomas Mann nicht an Niederbayern, Merz wiederum nicht an Thomas Mann. Nein, Thomas Mann dachte an das Gegensatzpaar: Oberflächlichkeit und Tiefe. Darum neigen Linke dazu, die Kultur überhaupt für gefährlich zu halten, die deutsche sogar für die Vorbereitung auf ein Verbrechen. Aber das Gegenteil eines Fehlers ist wieder ein Fehler. Denn es gibt sie doch, diese Kultur. Auch die Tiefe. Man sieht es daran, dass Thomas Mann seine Anschauung über das Verhältnis von Zivilisation und Kultur sehr korrigiert hat. Und man merkt seinen Büchern diesen Wechsel nicht an. Das ist Kultur. Wenn man so will, Leitkultur. Deutsch? Vielleicht in den Fermenten einer Prägung. Nur kann man niemanden auf eine Kultur verpflichten. Sie ist, genau wie die Nähe zu anderen Kulturen auch, eine Frage der Liebe. Es ist Eros darin. Es gibt keine Leitliebe, keinen Leit-Eros.

Thierse findet, Ulrich Meyer und Sat.1gehörten nicht wirklich zur journalistischen Leitkultur

Aber wahrscheinlich hat Angela Merkel doch Recht. Sie existiert, die „Leitkultur in Deutschland“. Doch sie ist gar nicht deutsch. Sie ist moralisch. Sie nimmt die Welt als moralisches Phänomen und zeigt ihr mit Lichterketten und Großdemos, was sie von ihr hält. Ihre vorerst größte Kundgebung in Deutschland soll morgen in Berlin stattfinden. Sie hat wirklich Recht. Sie meint es gut. Auch wenn sie Losungen mag wie „Mein Freund ist Ausländer“. Oder „Fremde sind Freunde“. Diesen Ton, in dem man zu Kindern spricht. Diese kleine Einfalt darin.

Und hinterher müssen wir in die Kneipe. Nein, in 130 Berliner Kneipen. 130 Berliner Kneipen haben aufgerufen zum „Saufen gegen rechts“. Das Thema Rechtsradikalismus, mal „vom Tresen aus flankiert“. Auch moralische Kulturen sind eben immer beides: Leit und Light.