Die Schatten der armen Sünder

„Die durchschnittliche Lebensleistung eines Ehemanns besteht in 5- bis 10.000 Dias“: Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst widmet ihre Ausstellung „Dia/Slide/Transparency“ farbigen Urlaubserinnerungen, glitzernden Diskokugeln und anderen flüchtigen Lichterscheinungen der späten Moderne

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Den Teufel an die Wand zu malen, hielt der barocke Universalgelehrte Athanasius Kirchner manchmal aus erzieherischen Gründen für angebracht. Plötzlich und unerklärlich müsse die Erscheinung des Leibhaftigen sein, um armen Sündern in die Glieder zu fahren. Kirchner verfügte über das Wissen, geisterhafte Lichtbilder an die Wand zu werfen. Lange galt er als Erfinder der Laterna magica, und er hat auch die Camera obscura in einer Zeichnung festgehalten.

Jahrhundertelang war das Interesse der Forscher an diesen bilderzeugenden Techniken philosophisch begründet. Zum einen fanden sie darin erkenntnistheoretische Modelle, um die menschliche Arbeit des Sehens erklären zu können. Zum anderen aber und dem rationalistischen Impuls zum Trotz faszinierte sie das Ephemere der Lichterscheinung. Sie lud dazu ein, über die Abhängigkeit alles Seienden vom Licht und über dessen Ursprung nachzudenken.

Nimmt man die Epoche der gemalten Laterna-magica-Bilder hinzu, ist die Geschichte der Dias älter als die der Fotografie. Ihre Verbindung zum Mythischen ist ein Kapital, das in der Ausstellung „Dia/Slide/Transparency“ von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst genutzt wird, um einen Bogen zur zeitgenössischen Kunst zu schlagen.

Mitten hinein in die Zauberlaterne gerät man in den Installationen von Mischa Kuball und Gunda Förster. Kuball lässt die Buchstaben der Worte „Space“ und „Speech“ um den Besucher wirbeln wie zwei sich kreuzende Milchstraßen. Er projiziert sie auf sich drehende Diskokugeln und man fühlt sich selbst zwischen den Planeten schwebend. „Space/Speed/Speech“ erinnert nicht nur im Titel an den Beginn der Schöpfungsgeschichte, die das Wort der Wahrnehmung des Raumes vorausschickt. Der Raum selbst ahmt die romantische Vorstellung nach, in den Lichtern der Sterne eine Himmelsbotschaft lesen zu können.

Auch der Projektionsraum von Gunda Förster verführt zu kosmogonischen Fantasien, diesmal eher im Inneren der Erde angesiedelt. Aus dem Klacken der Karussells in neun Projektoren und aus abstrakten Farbdias hat sie eine komplexe Komposition entwickelt, die einen manchmal hämmernd in dunkle Stollen vortreibt, dann wieder mit Rotglühendem umgibt oder zu Blauem emporträgt.

In den Kathedralen der Gotik galt das Licht, das durch farbiges Glas fiel, als Symbol göttlicher Gegenwart. An diese mystische Überhöhung erinnern die beiden Bogenfenster im Kunstamt Kreuzberg, die von der isländischen Künstlerin Osk Vilhjámsdóttir mit einem Mosaik gefundener Dias überzogen worden sind. Zugleich aber durchbricht die Herkunft der Filmstückchen die sakrale Anmutung: Nicht ein göttlicher Autor war hier am Werk, sondern die kollektive Erinnerung an den Urlaub.

Die deutsche Sozialgeschichte des Dias als Urlaubsfoto, das den Höhepunkt seiner Karriere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte, bildet den zweiten Schwerpunkt der zweiteiligen Ausstellung, der in den Räumen der NGBK ausgebreitet wird. Besonders den Recherchen von Helmut Höge, der sich Ende der Achtzigerjahre in die Erforschung von Dia-Sammlungen stürzte, sind wichtige Erkenntnisse zu verdanken. Zum Beispiel, dass die „durchschnittliche Lebensleistung eines Ehemannes in 5- bis 10.000 Dias“ bestand, auf denen die Ehefrau fürsorglich für die Belebung des Vordergrundes sorgte. Mit seiner Serie „Frau am Geländer“ hat Höge überhaupt erst den Blick geschärft für die ästhetischen Leistungen dessen, was man bis dahin aus dem elterlichen Wohnzimmer als rein private Geschichte kannte. Man erkennt sich wieder in diesem Repertoire der Erinnerungsgesten.

Auch das Reisedia hat aus den Sphären von Diaabenden längst einen Weg in die Kunst gefunden. Rémy Markowitsch, Nina Sidow, Beat Streuli und Mark Kubitzke widmen sich dem Umgang mit der Aneignung des Fremden im Bild. Dabei versuchen sie, das Eigene von seinen Rändern her zu beschreiben und performative Muster der Erinnerungskultur bewusst zu machen.

In der Geschichte der Medien noch einmal zu den Dias zurückzukehren, ist ein Appell zur Verlangsamung. Noch einen Schritt weiter geht der junge englische Künstler LEO, der dem technischen Aufrüstungswahn der Gegenwart die Low-Tech des Schattenspiels entgegenhält. Nicht nur als Projektion: Er hat die Hasen-, Hunde- und Entenköpfe, mit denen sich besonders das 19. Jahrhundert vergnügte, nachstricken lassen als wollene Handschuhe. Man wärmt sich am Schatten des Vergangenen.

Bis 26. November. In der NGBK, Oranienstr. 25, und im Kunstamt Kreuzberg, Mariannenplatz, tägl. 12 –  18.30 Uhr